Gerhard Finckh, Museum Folkwang Essen

Volker Rattemeyer, Museum Wiesbaden

Michael Witlatschils Skulpturen versetzen ihre Betrachter zumeist in ungläubiges Staunen und veranlassen sie, nach einem verborgenen Trick zu suchen; denn Witlatschil stellt seine Stahlpfähle so auf ihre angeschrägte Spitze, dass sie wie Primaballerinen "auf Zehenspitzen" balancieren. Doch einen Trick gibt es dabei nicht; - alles geht hier ohne Netz und doppelten Boden und mit rechten Dingen zu. Das Austarieren der Massen und die Versammlung des Hauptgewichtes über dem Schwerpunkt allein ermöglichen den sicheren Stand der Skulpturen auf kleinster Fläche, - der Vergleich mit dem prekären Stand von Tänzern in bestimmten Figuren ist in dieser Hinsicht durchaus berechtigt.
Aber Witlatschil beabsichtigt mit seinen Skulpturen mehr und anderes, als das Staunen der Betrachter herauszufordern. Es geht ihm nicht nur darum, dass seine Skulpturen stehen, sondern darum, wie sie stehen. So thematisiert er das Stehen an sich und besetzt damit eine besondere, extreme Position in der langen Geschichte der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema "Stand und Bewegung" in der plastischen Figur. Glambolognas "figure serpentinate", Rodins"1'homme qui marche", Brancusis "Vögel im Raum" von 1927, Giacomettis stehende oder ausschreitende Figurinen und Norbert Krikes fast spielerisch anmutende "Ein-Draht-Raum-Komposition" markieren die Eckpunkte eines Beziehungsgeflechtes von Figurationen in deren Kontext Michael Witlatschils Skulpturen zu sehen sind.
Zentral ist für diese Skulpturen das Verhältnis zum umgebenden Raum, der sie in besonderem Licht ausgezehrt, fragil und höchst gefährdet erscheinen lässt, den sie ihrerseits aber durch ihre Präsenz kraftvoll strukturieren und worin sie dem Betrachter seinen Ort anweisen und seinen Bewegungsspielraum zumessen.
Was sich auf den ersten Blick als reines Spiel mit der Statik, mit dem mehr oder weniger sicheren Stand darstellt, hat noch andere Dimensionen: Gerade die Bewegung, die in den raumbeherrschenden Figurationen Witlatschils minimiert erscheint, ist ein wesentliches Konstituens dieser "Instandsetzungen", - und Michael Witlatschil legt insbesondere in seiner neuen Arbeit mit dem Titel "Tragkraft/Horlzonte" Wert auf dieses Bewegungselement, das sich während der Aufstellung, bevor die Skulpturen ihren endgültigen, sicheren Ruhepunkt gefunden und erreicht haben, entfaltet. Michael Witlatschil spricht im Zuammenhang mit dem Aufstellen seiner Objekte von "Choreographie" und meint damit die fast rituallsiert wirkende, ruhige, vorsichtig bedachte, aber sichere Abfolge von Bewegungen, die mit dem Moment des Prüfens und Loslassens der Skulptur jeweils ihren Scheitelpunkt erreichen. In der stillen Repetition dieser einander immer ähnlichen und nie gleichen Bewegungen beim Aufstellen der einander ähnlichen und doch in logischer Reihe auseinander entwickelten Skulpturen der Konfiguration "Tragkraft/Horizonte" mag die Erinnerung an das Ritual archaischer Tempeldienste anklingen; - dem modernen Begriff "Performance" mangelt der beschwörende, magische Aspekt, der diesen Aufrichtungen zu eigen ist. Die neue Ausstellung Michael Witlatschils legt besonderen Wert auf die prozesshafte Vorgehensweise und dokumentiert sie im Katalog in verschiedenen Fotosequenzen.
Und noch auf eine andere Ebene dieser komplexen Arbeiten Michael Witlatschils sei hingewiesen: So sehr diese Skulpturen auf Ruhe und ruhige Bewegung, auf eine kontemplative Stille im Raum angewiesen sind, so sehr verbirgt sich hinter und in ihnen ein wildes Temperament, ein latenter Zorn auf das wüste Treiben einer als feindlich begriffenen Welt, in der Kriege und andere Katastrophen den Einzelnen in seinem unerlässlichen Menschsein beeinträchtigen, seine Autonomie weitgehend vernichten. Die Skulpturen Michael Witlatschils werden damit zu Metaphern für das, was dieser Welt abhanden gekommen ist und Gegenstand einer immerwährenden Arbeit zu werden hat: die Hingabe.