|
Thomas
Deecke
über Michael Witlatschil |
|
Stehen
neu
erfunden
|
[text
page 2] |
[overview] |
|
Selbständigkeit
oder, wie Michael Witlatschil es zur Verdeutlichung schreibt:
Selbst-Ständigkeit (s. Titelblatt d. Heftes) gibt seinen
Skulpturen jene Unverwechselbarkeit, die sie heraushebt aus
der Vielzahl plastischer Erscheinungen der 80er Jahre. Michael
Witlatschil hat sich eines alten, ja eines klassischen Themas
der skulpturalen Gestaltung entsonnen, das über vielen
spielerischen Experimenten, bedeutungsschweren Installationen
und Arrangements und dramatischen Inszenierungen im Bereich
des Skulpturalen etwas in Vergessenheit geraten schien: der
Darstellung des Aufgerichtetseins, des >Standes<, wie
er deshalb grundsätzlich seine Skulpturen bezeichnet.
Vom Augenblick des Auf richtens an entwarf der Mensch das Bild
seiner selbst: Selbständigkeit und das daraus erwachsene
Selbstbewußtsein bedingen einander. Seit jener Zeit schuf
er sich Vorbilder, Heroen und Götter nach seinem Bilde,
erhob er sich aus der Masse der Kreaturen, die er von nun an
zu beherrschen trachtete. Der aufgerichtete Mensch war zugleich
der erste Künstler, das Thema des Aufgerichtetseins ließ
ihn nicht mehr los. Michael Witlatschils Skulpturen nehmen dieses
uralte Thema wieder auf, sie stellen das Stehen, den Stand,
das Aufgerichtetsein selber dar, ja im Aufstellen der Skulpturen
vollzieht der Künstler den höchst komplizierten Prozeß
des Sichaufrichtens und des Stehenbleibens nach; dieses Aufrichten/Aufstellen
gehört deshalb wesentlich zur Skulptur hinzu. Das Aufrichten
ist erlernbar; die Erfahrung mit der Skulptur stellt sich im
Erarbeiten des Standes gemeinsam mit der Skulptur erst her;
Stand wird erlebt. Erst nach diesem von den räumlichen
Gegebenheiten (z. B. der Planheit und Schwingungsfreiheit des
Untergrundes) und der persönlichen Konstituition und Geduld
des Aufstellenden abhängigen Vorgang stehen die Skulpturen
ebenbürtig dem betrachtenden Menschen gegenüber, oder
doch fast ebenbürtig, konzentriert bzw. beschränkt
auf die Demonstration der partnerschaftlichen Geste des ungestützten
Stehens.
Michael Witlatschil knüpft damit an die älteste Tradition
des skulpturalen Gestaltens an. Seine Vorfahren finden sich
in den aufrecht stehenden und zugleich schreitenden Kouroi der
archaischen und vorklassischen Epoche Griechenlands, im >L'homme
qui marche< (von 1896/97), diesem alleine Stand und Schreiten
versinnbildlichenden Torso von Auguste Rodin, bis zu dem sich
in die Lüfte erhebenden und doch dem Sockel verhafteten
>Vogel im Raum< (seit 1927) von Constantin Brancusi.
Michael Witlatschils Skulpturen stehen im Zustand höchster
Labilität und sind doch zugleich von hoher Dauerhaftigkeit
solange sie nicht berührt werden. Stehen sie einmal,
dann sind sie unberührbar: Noli me tangere ,
ihr Gleichgewicht ist von extrem hoher Verletzlichkeit, habhaft
wird man ihrer nur im Angesicht, nicht in der Berührung
und in der Besitznahme, es sei denn, man richte sie selber wieder
auf.
Michael Witlatschils Skulpturen versetzen den unerfahrenen Betrachter
|
zuerst einmal in ungläubiges Staunen und lassen ihn nach
verborgenen Tricks,geheimen Befestigungen, unsichtbaren Verschraubungen
suchen:
Die Verwandtschaft der offenkundig künstlichen stählernen
oder kupfernen Skulpturen (in den frühen Arbeiten auch
einmal mit Glas kombiniert) von hohem Abstraktionsgrad mit der
eigenen Fähigkeit, sich ohne zu schwanken aufrecht >auf
den Beinen zu halten', ist zu verblüffend, als daß
sie gleich und ohne zu zögern akzeptiert werden könnte.
Und doch stehen die Skulpturen von Michael Witlatschil aus einer
Kraft ohne versteckte Halterung, alleine im ausbalancierten
Gleichgewicht auf winzigen Flächen bzw. auf sehr eng beieinanderliegenden
Kanten oder Spitzen, zur Verdeutlichung zudem auf dicken Glasoder
Spiegelscherben. >Sockel< »unterstreichen vollends
den Schwebezustand ihres Erscheinungsbildes«.1 Diese Skulpturen
sind trotz ihres hohen Gewichtes, trotz ihrer oft körperlichen
Angemessenheit empfindsam, labil. Ihr Stand wirkt wie die Erfindung
des Stehens, ist erste Eroberung einer neuen Dimension skulpturaler
Existenz, ist Balance am Rande des Abgrundes, des Fallens.
Kraft aus Balance
Die Sensation, die vom Bild ihres labilen Standes herrührt,
ist jedoch nur ein Aspekt ihrer Erscheinung. Die Labilität
der ausbalancierten Skulpturen, ihre potentielle Gefährdung
durch den berührenden Betrachter, die eine Aufstellung
und eine Ausstellung seiner Werke immer wieder zu einem Wagnis
werden lassen, verführen den Betrachter dazu, eben diese
Gefährdung und Labilität zur wesentlichen Aussage
der Skulpturen zu erklären. Ist diese Gefährdung aber
erst einmal erkannt, so eröffnet sich jenseits des Sensationellen
der Erscheinung dieser Skulpturen eine Dimension gestalterischer
Kraft, wie sie nur selten so rein zu Tage tritt.
Michael Witlatschil begann während seiner Studienjahre
in Münster mit skulpturalen Konstruktionen, die mit Hilfe
gelegentlich komplizierter, von Werk zu Werk jedoch einfacher
gebauter mechanischer Apparaturen aus Gewichten und Seilen,
Eisenstangen und Glasscheiben in Zustände relativen Gleichgewichtes
gehalten wurden, wobei diesen mechanischen Installationen jedoch
noch sichtbar die Kompliziertheit ihrer Konstruktion anhaftete
und sie dadurch zugleich auch die Mühseligkeit ihres erdachten
Entstehungsprozesses vorführten.
In den Skulpturen von 1980/81 für die er den Förderpreis
des Westfälischen Kunstvereins erhielt 2 dominierte
dann schon das Prinzip der eindeutigen, d. h. reduzierten Form,
die der Präsentation durch den Künstler selber als
den die Skulptur aufrichtenden Erbauer bedurfte, denn dieses
»In Stand setzen«3 war schon »als Handlungsprozeß
ein Ritual geworden«, das von nun an »zum wesensmäßigen
Bestandteil der Skulptur gehört«4 (von einigen dieser
Aufrichtungen gibt es auch Videos). Diese Skulpturen, die |
[text
page 1] |
|
|
seit
>Modell Stand 1 < (1979) entstanden, demonstrierten nicht
mehr das Didaktisch-Funktionelle ihrer Balance-Mechanik, sondern
die Einfachheit ihrer auf das Wesentliche reduzierten Gestalt
eines ausgewogenen Standes.
In »Modell Stand 1 bis 7< (1979-81) betont Witlatschil
jedoch noch die immer wieder frappierenden Momente des unwahrscheinlich
anmutenden Stehens der Skulpturen trotz ihrer weit in den Raum
ragenden und exzentrisch ausgreifenden Gesten der miteinander
verkeilten und verzahnten Metallstäbe, die durch Druck
und Zug im Gleichgewicht gehalten werden. Von 1981 an mit den
Arbeiten >Stand 8 Ich 1 < (Abb. 1-4) reduziert
der Künstler das Geschehen auf den ruhigen und viel unspektakuläreren,
darum aber umso eindringlicheren Stand der Skulptur; aber auch
hier als Ergebnis eines je nach Gemütslage langwierigen
und suchenden Prozesses des Aufstellens durch den Künstler.
Betrachten, nicht berühren
Nach einem Zwischenspiel mit den aufeinanderstehenden, aufragenden
Stangen >Stand 9 Das über Dem< (1982) bzw.
zwei mit Hilfe einer gespannten Drahtschleife miteinander verbundenen
Stangen >Stand 10 Ich 2 < (1982) erarbeitete Witlatschil
mit >Stand 11 Näherung A< (1982) einen neuen
Typ der Balanceskulptur, der ihn neben den Einzelständen
immer stärker beschäftigen wird. Zwei (später
auch gelegentlich drei) einander zugeordnete zwillingshaft gleiche
oder spiegelbildähnliche Stangen nähern sich auf gemeinsamer
gläserner Standfläche bis auf eine manchmal nur millimeterenge
Distanz, wie in einem das Letzte nicht wagenden »Noli
me tangere«; partnerschaftlich einander zugeneigt, im
Augenblick des Einander-noch-nicht-Berührens verharrend.
Jede Berührung würde das Bild auch hier zerstören,
die Skulptur zusammenbrechen lassen.
Eine dritte Variante, der Schwebezustand zwischen dem >gerade
noch Stehen' und dem demonstrativen >Hier stehe ich <,
sind die vom Künstler so genannten >Rückführungen<
(seit 1984; s. Abb. 6-9), bei denen eine gebogene bzw. vielfach
geknickte, gelegentlich auch seitlich ausschwingende Metallstange
mit ihren beiden Enden auf einer gemeinsamen Standplatte bzw.
auf verschiedenen Sockelgläsern ruht. Hier dokumentiert
sich der Auf- und Abschwung einer ausbalancierten Rundform,
demonstriert sich ein Schritt, der zugleich darin dem
>L'homme qui marche< von Rodin brüderlich verwandt
den Stand versinnbildlicht und zugleich den Augenblick
manifest macht, in dem aus dem Stand heraus die Bewegung des
Ausschreitens gesucht wird.
Man kommt bei der Beschreibung der Figuren von Michael Witlatschil
nicht umhin, immer wieder das Physiognomische seiner an sich
ja rein abstrakten Figurationen zu betonen. Sie nehmen von der
menschlichen Figur nicht das Abbildhafte zum Vorbild, zu dem
Rodin in der Verkürzung auf den Torso (»Wozu braucht
ein Schreitender Kopf und Arme«, soll er gesagt haben)
noch greifen mußte, um die Komplexität des Schreitens
und Stehens darzustellen. Witlatschil kann auf das Vorverständnis
eines am Abstrakten geschulten Publikums zählen, um Körperlichkeit
und Bewegungsverhalten an der von gegenständlichem Ballast
weitgehend befreiten Form allerdings in einer dem Körperlichen
angenäherter Dimensionierung darzustellen. Es geht
ihm dabei nicht um die Demonstration der Balancekräfte
an sich, um die Sichtbarmachung von Kraft und Gewicht, Druck
und Zug wie etwa im Werk von Richard Serra, auch wenn die potentielle
Gefährdung bzw. |
Gefährdetheit
sie einander verwandt erscheinen läßt, sondern
immer wesentlich um die Darstellung der Verwandtschaft von
Menschenbild und Skulptur. Von hier aus läßt
sich durchaus auch die Nähe zu den Skulpturen von Barnett
Newman >Here I (To Marcia) < und >Here II< sehen,
jenen aus kleinen Hügeln aufwachsenden aufrechten Bronzestreifen,
die ihre Herkunft aus den gemalten Streifen seiner (nicht
selten religiös motivierten) großen Bilder auch
in der zu den Seiten sich auflösenden Oberfläche
nicht verleugnen. Gerade in der der menschlichen Figur angenäherten
Dimensionierung, in der Idolhaftigkeit ihrer physiognomisch
dimensionierten Erscheinung liegt die Nähe der beiden
ansonsten so unterschiedlichen Temperamente.
Erfahren durch Konzentration
1989 entwickelte der Künstler aus dem Thema der dialogisch
aufgebauten Gruppierungen seiner Skulpturen, den sog. >Konfigurationen
<5 (s. Abb. 5) Zusammenstellungen von ursprünglich
zu ihrer Entstehungszeit nicht einander zugeordneten Werken
, environmentale Konstellationen, in denen das Grundthema
der Balance und des labilen Zwischenzustandes zu poetisch
anmutenden plastischen >Erzählungen< umgesetzt
wurde. In diesen aus Skulpturen, Objekten und großformatigen
Zeichnungen zusammengefügten szenischen Räumen
wird der basso continuo< des labilen Gleichgewichtes
seiner Arbeiten in einen erzählerisch-thematischen
Zusammenhang eingebunden, d. h. sinnfällig mit einem
von außen bestimmten Inhalt verknüpft. Dadurch
gelingt es ihm, den Aspekt des Sensationellen des aufgerichteten
Stehens in einen Handlungszusammenhang einzubinden, bei
dem die Skulptur wesentlicher, aber nicht mehr alleiniger
Protagonist des Geschehens ist. Nach einer Periode grundsätzlicher
Untersuchungen der bildnerischen Probleme des Standes hat
Witlatschil nun die Freiheit gewonnen, die Erkenntnisse
dieses Prozesses in einen inhaltlich komplexeren Bildraum
einzubringen.
Michail Witlatschil hat die eigene körperliche Erfahrung
in einer partnerschaftlich zu nennenden Beziehung zur Skulptur
erlebbar und nachvollziehbar gemacht. Balance ist für
den Künstler auch aus eigener körperlicher Erfahrung
nicht so sehr ein Problem, das sich aus den verwendeten
Materialien ergibt bzw. durch sie versinnbildlicht wird,
sondern eine Herausforderung in der Auseinandersetzung mit
der eigenen Existenz. Michael Witlatschils Skulpturen sind
Handlungsskulpturen, die nicht nur betrachtet, sondern in
Augenblicken hoher Konzentration errichtet werden müssen,
um wirklich erfahren zu werden.
Der
Autor ist Kunsthistoriker und Direktor
des im Aufbau befindlichen Neuen Museums Weserburg Bremen.
Anmerkungen
1 Sabine Kimpel-Fehlemann, Eine Assoziationscollage
zu zwei Werkstücken von Michael Witlatschil, in: Kat.
M. W.,
Städt. Museum Abteiberg Mönchengladbach 1984,
o. P.
2 Kat. Witlatschil Skulpturen, Westfälischer
Kunstverein Münster 1985.
Dort finden sich Abbildungen und Installationsfotos aller
im folgenden beschriebenen Skulpturen bis 1985.
3 Petra Lahnert, M. W. in NIKE, 3. Jg., Nr. 11, Dez. 1985/Jan.
Febr. 1986, S. 42
4 Sabine Kimpel-Fehlemann, a. a. 0.
5 Sabine Kimpel-Fehlemann, a. a. 0.
Fotonachweis
Abb. 22 Philipp Schönbom
Abb. 1-4,6-9,10-13 Westfälisches Landesmuseum für
Kunst- und Kulturgeschichte, Münster
|
|
|
|
|
|
|