Eines sei vorweggesagt: Der Titel "Die Waage des Cusanus"
will nicht so verstanden sein, als wäre hier ein Text
des Nikolaus von Kues illustriert.
Es geht vielmehr um eine freie Titelzuweisung, der allerdings
eine ausgiebige Beschäftigung mit dem Denken des großen
Theologen und Philosophen an der Schwelle vom Mittelalter
zur Neuzeit zugrunde liegt.
Cusanus' mathematische Argumentationsmethode und seine Vorstellung
von der "Coincidentia oppositorum", dem Zusammenfallen der
Gegensätze, beschäftigen Michael Witlatschil seit
langem - wenn auch unter dem speziellen Erkenntnisaspekt des
Künstlers.
Aber zunächst
ein paar Sätze zur Vorgeschichte des Werkes. Ich möchte
nicht auf den von der staatlichen Kunstkommission betreuten
Wettbewerb und die sehr unterschiedlichen Vorschläge
der eingeladenen Künstler eingehen. Vielmehr möchte
ich etwas über die besonderen Bedingungen sagen, die
im Ort und in einem Bauereignis begründet sind. Der Hof
der Neuen Universität ist zwar ein Konglomerat, aber
als solches von hohem Denkmalrang und ästhetischem Reiz.
Der mittelalterliche Hexenturm, das ehemalige Jesuitengymnasium
und die Neue Universität bilden ein Ambiente, das von
Karl Gruber in den letzten Jahren der Weimarer Republik in
dieser Form gewollt und gestaltet wurde. Als man sich vor
nunmehr zehn Jahren dafür entschied, dass die Universitätsbibliothek
ein Tiefmagazin unter dem Universitätshof erhalten sollte,
war es eine ausgemachte Sache, dass die Baumaßnahme
oberirdisch keine größeren Spuren hinterlassen
durfte. Vor allem die Anrainer denken wohl mit einigem Schrecken
an die Zeit des Umbaus mit seinen nicht enden wollenden Schwierigkeiten
zurück. Als das Gelände schließlich planiert
und der Grubersche Gartengrundriß wiederhergestellt
waren, wurde für jedermann sichtbar, was den Planern
von vornherein klar war - dass der Hof in seiner Gestalt nämlich
doch nicht unerheblich verändert war: Als technischer
Auswuchs des Tiefmagazins erhob sich im westlichen Hofbereich
ein Quader von stattlichen Ausmaßen!
* Rede
zur Übergabe des Werkes im Hof der Neuen Universität
in Heidelberg am 17. 4. 1996
Die eingeladenen
Bildhauer hatten mit diesem Element zu rechnen. Wie und ob
überhaupt sie es in ihren Vorschlag einbeziehen wollten,
war ihnen freigestellt. Natürlich bot sich die Nutzung
als Sockel - mit denkbar unglücklichem Format - an, und
einige Konkurrenten wollten ihn in der Tat als Unterbau für
Bildwerke verwenden.
Auch Michael
Witlatschil bezog ihn in einem ersten Entwurf ähnlich
wie im ausgeführten zweiten in sein Kalkül ein,
entwarf aber einen Gegenpol weiter südöstlich auf
der Wiese: den "See des Cusanus", ein flaches Becken mit schwarz
geteertem Grund und ständig fließendem Wasser,
darin ein kupfernes "I" und als Wasserspender die Abformung
einer der Pferdeköpfe von Schadows Quadriga auf dem Brandenburger
Tor. Das Bedeutungsspektrum dieses Ensembles ist breit und
kann hier nur skizziert werden: Das "I" als Zahl Eins meint
bei Cusanus das göttliche Ineinsfallen aller Gegensätze;
es sollte aber auch für Individuum (das Unteilbare) stehen,
für Intellekt, für Information, für Ich, sollte
sich also, auch in seiner physischen Größe, auf
den Menschen beziehen. Das Pferd sollte einmal als Tier präsent
sein, das den Menschen in seiner Geschichte immer begleitet
hat, nicht zuletzt auf den Schlachtfeldern, zum anderen sollte
es als Schadow-Zitat "auf einen gegenwärtig wichtigen
Bezug zur Stadt Berlin als Brennpunkt deutscher Geschichte"
verweisen (so Witlatschil in seiner Konzeptbeschreibung).
Der Entwurf wurde von der Kommission prämiert, aber dem
Künstler mit der Bitte um Überarbeitung zurückgegeben,
weil man eine Lösung mit Wasser an dieser Stelle für
bedenklich hielt.
Das Ergebnis
dieser Überarbeitung haben wir vor uns. Gänzlich
verändert hat Witlatschil das Ensemble auf der Wiese.
Nunmehr sehen wir uns einer Replik des Kastens gegenüber,
den uns die Techniker im westlichen Hofbereich beschert haben.
Dieser zweite Kasten ist aber gleichsam dabei, in der Grube
zu versinken, die man unter dem Hof für die Bücher
gegraben hat. Während das metallene "I" auf dem liegenden
Quader reaktionslos lagert, ist es auf dem schräggestellten
zu einer aktiven Antwort - das heißt: zur Findung eines
Stands auf unsicherem Grund - herausgefordert.
Die "verlorene Ruhe" des ersten "I" will
als eine Ruhe interpretiert sein, in der gleichsam die Willenskraft
stillgelegt ist; die "gewonnene Haltung"
des balancierenden "I" resultiert hingegen aus der Fähigkeit,
sich in prekärer Situation handelnd zu behaupten.
Dass Witlatschil
die steinerne Deckfläche des liegenden Kastens als Straßenausschnitt
mit einem seitenparallelen Mittelstreifen ausgebildet hat,
die Deckfläche des unten offenen zweiten Kastens als
einen Straßenausschnitt mit einem schräg zu den
Kanten verlaufenden Streifen, will wohl als Fingerzeig auf
das Faktum verstanden sein, dass Erfahrung immer nur in definierten
Ausschnitten aus einem Kontinuum möglich ist - Ausschnitten,
die ganz verschieden beschaffen sein mögen. Der Ansatz
Witlatschils ist sicherlich konzeptuell, die Weise der Einlösung
aber durchaus sinnlich. Und damit ist nicht nur eine Haupteigenart
Witlatschils benannt, sondern auch etwas über einen wichtigen
Trend gegenwärtiger Kunst gesagt. Herkömmliche Vorstellungen
von Plastik helfen nur bedingt weiter, wenn man ein Werk wie
das Heidelberger Ensemble zu erklären sucht. Es steht
ja keine materiell in sich geschlossene und thematisch fixierte
Arbeit zur Debatte, sondern ein Gebilde, das formal und inhaltlich
zugleich beziehungsreich und offen ist.
Kunst ist
längst dazu aufgebrochen, Probleme jenseits ästhetischer
Normen und konventioneller Wahmehmungsweisen zu untersuchen.
Und Michael Witlatschil gehört ohne Zweifel zu denjenigen,
die solche Erkundungen mit besonderer Entschiedenheit vorantreiben.
Der 1953
im westfälischen Südfelde geborene Witlatschil hat
sich nach dem Studium bei Emil Schumacher und Horst Egon Kalinowski
in Karlsruhe und Timm Ulrichs in Münster rasch eine außerordentliche
Reputation verschafft. Was kann man über einen Künstler
seiner Generation mehr sagen, als dass er mit dem Villa-Romana-Stipendium
in Florenz und dem Villa-Massimo-Stipendium in Rom ausgezeichnet
wurde und dass er auf der documenta 8 in Kassel vertreten
war? Die Liste seiner Ausstellungen ist länger als die
manches Künstlers am Ende einer langen Karriere.
Ich erinnere
mich an meine Faszination bei der ersten Begegnung mit Arbeiten
Witlatschils in den frühen achtziger Jahren: Hier wurden
durch scheinbar simple Gegenstände (nämlich Metallstäbe
und Glas) und einfache Operationen Zustände des Stehens
an der Schwelle zwischen Stabilität und Verletzlichkeit
sinnenfällig gemacht, und zwar so, dass man ebenso verblüfft
wie zum Nachdenken angeregt war. Und dabei waren die empfindlichen
Konstellationen auf ganz eigene Weise schön (ein Wort,
das man seinerzeit kaum auszusprechen wagen durfte). In Heidelberg
zeigt sich Witlatschil von der Seite eines Gestalters, der
komplizierte Bewandtniszusammenhänge herzustellen und
große Raumbeziehungen zu meistern vermag. Die poetisch-allusiven
Momente des ersten Entwurfs sind in der Ausführungsfassung
zurückgenommen; das heißt: die Vermittlung der
Inhalte ist in höherem Maße der Sprachkraft der
Formen anvertraut.
Ich will
offen gestehen, dass ich, so sehr mich das Konzept überzeugte,
anfänglich mit der Mächtigkeit des aufragenden Kastenelementes
wenig zurechtkam. Indessen ist dieses kleine Gebirge im Hof
der Neuen Universität ja nur die folgerichtige Antwort
auf das rigorose Formangebot der Tiefbauer, und es kann in
solchem Sinn den Betrachter zum Reflektieren bringen, wie
es das "I" auf seiner Spitze zum Balancieren bringt.
Je länger
ich mich jedenfalls mit dem Ensemble befasst habe, desto mehr
wuchs mein Verständnis für die Sache und mit ihm
meine Bewunderung für den Künstler. Ich hoffe, dass
es Ihnen allen auch so
geht!