Teil A (verlorenen Ruhe)

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Peter Anselm Riedl

Michael Witlatschil: "Die Waage des Cusanus"

Eines sei vorweggesagt: Der Titel "Die Waage des Cusanus" will nicht so verstanden sein, als wäre hier ein Text des Nikolaus von Kues illustriert.
Es geht vielmehr um eine freie Titelzuweisung, der allerdings eine ausgiebige Beschäftigung mit dem Denken des großen Theologen und Philosophen an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit zugrunde liegt.
Cusanus' mathematische Argumentationsmethode und seine Vorstellung von der "Coincidentia oppositorum", dem Zusammenfallen der Gegensätze, beschäftigen Michael Witlatschil seit langem - wenn auch unter dem speziellen Erkenntnisaspekt des Künstlers.

Aber zunächst ein paar Sätze zur Vorgeschichte des Werkes. Ich möchte nicht auf den von der staatlichen Kunstkommission betreuten Wettbewerb und die sehr unterschiedlichen Vorschläge der eingeladenen Künstler eingehen. Vielmehr möchte ich etwas über die besonderen Bedingungen sagen, die im Ort und in einem Bauereignis begründet sind. Der Hof der Neuen Universität ist zwar ein Konglomerat, aber als solches von hohem Denkmalrang und ästhetischem Reiz. Der mittelalterliche Hexenturm, das ehemalige Jesuitengymnasium und die Neue Universität bilden ein Ambiente, das von Karl Gruber in den letzten Jahren der Weimarer Republik in dieser Form gewollt und gestaltet wurde. Als man sich vor nunmehr zehn Jahren dafür entschied, dass die Universitätsbibliothek ein Tiefmagazin unter dem Universitätshof erhalten sollte, war es eine ausgemachte Sache, dass die Baumaßnahme oberirdisch keine größeren Spuren hinterlassen durfte. Vor allem die Anrainer denken wohl mit einigem Schrecken an die Zeit des Umbaus mit seinen nicht enden wollenden Schwierigkeiten zurück. Als das Gelände schließlich planiert und der Grubersche Gartengrundriß wiederhergestellt waren, wurde für jedermann sichtbar, was den Planern von vornherein klar war - dass der Hof in seiner Gestalt nämlich doch nicht unerheblich verändert war: Als technischer Auswuchs des Tiefmagazins erhob sich im westlichen Hofbereich ein Quader von stattlichen Ausmaßen!

* Rede zur Übergabe des Werkes im Hof der Neuen Universität in Heidelberg am 17. 4. 1996

Die eingeladenen Bildhauer hatten mit diesem Element zu rechnen. Wie und ob überhaupt sie es in ihren Vorschlag einbeziehen wollten, war ihnen freigestellt. Natürlich bot sich die Nutzung als Sockel - mit denkbar unglücklichem Format - an, und einige Konkurrenten wollten ihn in der Tat als Unterbau für Bildwerke verwenden.

Auch Michael Witlatschil bezog ihn in einem ersten Entwurf ähnlich wie im ausgeführten zweiten in sein Kalkül ein, entwarf aber einen Gegenpol weiter südöstlich auf der Wiese: den "See des Cusanus", ein flaches Becken mit schwarz geteertem Grund und ständig fließendem Wasser, darin ein kupfernes "I" und als Wasserspender die Abformung einer der Pferdeköpfe von Schadows Quadriga auf dem Brandenburger Tor. Das Bedeutungsspektrum dieses Ensembles ist breit und kann hier nur skizziert werden: Das "I" als Zahl Eins meint bei Cusanus das göttliche Ineinsfallen aller Gegensätze; es sollte aber auch für Individuum (das Unteilbare) stehen, für Intellekt, für Information, für Ich, sollte sich also, auch in seiner physischen Größe, auf den Menschen beziehen. Das Pferd sollte einmal als Tier präsent sein, das den Menschen in seiner Geschichte immer begleitet hat, nicht zuletzt auf den Schlachtfeldern, zum anderen sollte es als Schadow-Zitat "auf einen gegenwärtig wichtigen Bezug zur Stadt Berlin als Brennpunkt deutscher Geschichte" verweisen (so Witlatschil in seiner Konzeptbeschreibung). Der Entwurf wurde von der Kommission prämiert, aber dem Künstler mit der Bitte um Überarbeitung zurückgegeben, weil man eine Lösung mit Wasser an dieser Stelle für bedenklich hielt.

Das Ergebnis dieser Überarbeitung haben wir vor uns. Gänzlich verändert hat Witlatschil das Ensemble auf der Wiese. Nunmehr sehen wir uns einer Replik des Kastens gegenüber, den uns die Techniker im westlichen Hofbereich beschert haben. Dieser zweite Kasten ist aber gleichsam dabei, in der Grube zu versinken, die man unter dem Hof für die Bücher gegraben hat. Während das metallene "I" auf dem liegenden Quader reaktionslos lagert, ist es auf dem schräggestellten zu einer aktiven Antwort - das heißt: zur Findung eines Stands auf unsicherem Grund - herausgefordert. Die "verlorene Ruhe" des ersten "I" will als eine Ruhe interpretiert sein, in der gleichsam die Willenskraft stillgelegt ist; die "gewonnene Haltung" des balancierenden "I" resultiert hingegen aus der Fähigkeit, sich in prekärer Situation handelnd zu behaupten.

Dass Witlatschil die steinerne Deckfläche des liegenden Kastens als Straßenausschnitt mit einem seitenparallelen Mittelstreifen ausgebildet hat, die Deckfläche des unten offenen zweiten Kastens als einen Straßenausschnitt mit einem schräg zu den Kanten verlaufenden Streifen, will wohl als Fingerzeig auf das Faktum verstanden sein, dass Erfahrung immer nur in definierten Ausschnitten aus einem Kontinuum möglich ist - Ausschnitten, die ganz verschieden beschaffen sein mögen. Der Ansatz Witlatschils ist sicherlich konzeptuell, die Weise der Einlösung aber durchaus sinnlich. Und damit ist nicht nur eine Haupteigenart Witlatschils benannt, sondern auch etwas über einen wichtigen Trend gegenwärtiger Kunst gesagt. Herkömmliche Vorstellungen von Plastik helfen nur bedingt weiter, wenn man ein Werk wie das Heidelberger Ensemble zu erklären sucht. Es steht ja keine materiell in sich geschlossene und thematisch fixierte Arbeit zur Debatte, sondern ein Gebilde, das formal und inhaltlich zugleich beziehungsreich und offen ist.

Kunst ist längst dazu aufgebrochen, Probleme jenseits ästhetischer Normen und konventioneller Wahmehmungsweisen zu untersuchen. Und Michael Witlatschil gehört ohne Zweifel zu denjenigen, die solche Erkundungen mit besonderer Entschiedenheit vorantreiben.

Der 1953 im westfälischen Südfelde geborene Witlatschil hat sich nach dem Studium bei Emil Schumacher und Horst Egon Kalinowski in Karlsruhe und Timm Ulrichs in Münster rasch eine außerordentliche Reputation verschafft. Was kann man über einen Künstler seiner Generation mehr sagen, als dass er mit dem Villa-Romana-Stipendium in Florenz und dem Villa-Massimo-Stipendium in Rom ausgezeichnet wurde und dass er auf der documenta 8 in Kassel vertreten war? Die Liste seiner Ausstellungen ist länger als die manches Künstlers am Ende einer langen Karriere.

Ich erinnere mich an meine Faszination bei der ersten Begegnung mit Arbeiten Witlatschils in den frühen achtziger Jahren: Hier wurden durch scheinbar simple Gegenstände (nämlich Metallstäbe und Glas) und einfache Operationen Zustände des Stehens an der Schwelle zwischen Stabilität und Verletzlichkeit sinnenfällig gemacht, und zwar so, dass man ebenso verblüfft wie zum Nachdenken angeregt war. Und dabei waren die empfindlichen Konstellationen auf ganz eigene Weise schön (ein Wort, das man seinerzeit kaum auszusprechen wagen durfte). In Heidelberg zeigt sich Witlatschil von der Seite eines Gestalters, der komplizierte Bewandtniszusammenhänge herzustellen und große Raumbeziehungen zu meistern vermag. Die poetisch-allusiven Momente des ersten Entwurfs sind in der Ausführungsfassung zurückgenommen; das heißt: die Vermittlung der Inhalte ist in höherem Maße der Sprachkraft der Formen anvertraut.

Ich will offen gestehen, dass ich, so sehr mich das Konzept überzeugte, anfänglich mit der Mächtigkeit des aufragenden Kastenelementes wenig zurechtkam. Indessen ist dieses kleine Gebirge im Hof der Neuen Universität ja nur die folgerichtige Antwort auf das rigorose Formangebot der Tiefbauer, und es kann in solchem Sinn den Betrachter zum Reflektieren bringen, wie es das "I" auf seiner Spitze zum Balancieren bringt.

Je länger ich mich jedenfalls mit dem Ensemble befasst habe, desto mehr wuchs mein Verständnis für die Sache und mit ihm meine Bewunderung für den Künstler. Ich hoffe, dass es Ihnen allen auch so geht!

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