Thomas Deecke

Stand und Standpunkt

Als die Ausstellung der Skulpturen von Michael Witlatschil geplant wurde, die ursprünglich schon im Herbst 1984 stattfinden sollte, veranstaltete das Westfälische Landesmuseurn eine Ausstellung der Zeichnungen von Auguste Rodin. Als wesentliches plastisches Werk belegte die Skulptur des »Schreitenden« die bildhauerische Genialität Rodins. Sie begleitete die Ausstellung der Zeichnungen und gab zugleich den Hinweis auf das Werk eines Bildhauers, der nach allgemeiner Auffassung als Vollender der Bildhauerkunst des 19. Jahrhunderts gilt. Wie modern, ja avantgardistisch allerdings gerade der »L'homme qui marche» angesichts der auf Balance und Stand gerichteten Arbeiten von Michael Witlatschil wirken würde, war im Augenblick der Vorbereitung beider Ausstellungen nicht vorauszusehen. Aus dem Vollender Rodin wurde im Blick der Nachgeborenen der Wegbereiter, als welcher er schon die Ausstellung »Skulptur 77« angeführt hatte, der in der Abstraktion des ursprünglich aus heterogenen Teilen zusammengesetzten Torso des »Schreitenden« eine Bildsprache anklingen ließ, die erst in der konzeptuellen und minimalisierenden Kunst der sechziger bis achtziger Jahre wieder als Saat aufging und ihre Fortführung und abstrakte Vollendung fand. Rodins »Schreitender«, 1896/97 bzw. 1900 entstanden, macht das Motiv des Schreitens und Stehens zugleich in einer auf das Wesentliche reduzierten Weise sichtbar. Stand und Spielbein sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden, wie es der klassische Kanon erfordert hätte. Die Last ist gleichmäßig auf die tragenden Stützen des voluminösen und überdimensionierten monumentalen Körpers verteilt. Schreiten ist hier ganz im Diesseits als Funktion des Körpers und seiner Muskeln erfaßt und gestaltet, sodaß der Gesamtheit der Erscheinung nicht mehr die mimetische Funktion des Verweises auf eine Handlung anhaftet: es ist eben kein >Johannes der Täufer« gestaltet, dessen Vorbereitungsphase die Skulptur sicherlich zuzuordnen ist, kein »ehernes Zeitalter«, dessen ponderierendes Standmotiv hier überwunden war, ist zur Erklärung des Motivs oder zu seiner Überhöhung in den Bereich literarischer Bedeutung notwendig, sondern allein das aufrechte Stehen im Einklang mit der vorwärtssehreitenden Geste und der Raum, den der Schreitende sich damit erschließt, sind Inhalt und Botschaft an die Nachgeborenen.

Brancusis »Vogel im Raum«, ab, 1927 in zahlreichen Varianten entstanden, ist im Zusammenhang unserer Suche nach Vorläufern der Gleichgewichtsskulpturen Michael Witlatschils wie eine Einlösung des Versprechens zu sehen, das Rodin mit seinem »Schreitenden« gab. Der blieb Mensch, trotz seiner torsohaften Erscheinung (zum Schreiten brauche man keinen Kopf und keine Arme, hat Rodin auf Vorhaltungen erwidert), er verweist auf den Betrachter als Partner - er Goliath, wir David -, aber er teilt mit uns den Standort, den fast sockellosen Platz. Brancusis »Vogel im Raum« aber steht und hebt zum Flug ab im gleichen wie versteinerten Augenblick, ist ortsgebunden durch ein Minimum an Standfläche, die ihm die Sicherheit des Abhebens und Aufwärtsstrebens zu geben scheint, ist Form gewordenes Kürzel für den Flug als Fortsetzung des Balanceaktes eines Standes im freien Raum. Allem Abbildhaften bis auf einen allerletzten Rest bildhafter Assoziation - eben Vogel, nicht Flug - entkleidet, ist er trotzdem mehr Aufwärtsstreben, Abheben und Selbstbefreiung als Vogel, mehr Idee des Fluges als Flugstudie, mehr im Licht der Oberfläche - ob Marmor oder polierte Bronze - aufgelöste Kraftlinie als gebaute Skulptur. Auf dem von Brancusi gestalteten Sockel in die Augenhöhe des Betrachters gehoben und ihm in den Blick gestellt, diesen aufwärts lenkend, ist diese Vogel-Skulptur auf dem äußersten Grat der Abstraktion angesiedelt, auf dem der Verweis auf den Anlaß, das Vorbild, gerade noch erkennbar bleibt. In Brancusis rhythmisch sich in das Unbegrenzte fortsetzenden »Unendlichen Säule« (seit 1918 in zahlreichen Varianten unterschiedlicher Länge erarbeitet) wirft er auch den letzten Ballast an Realitätserinnerung zugunsten der idealen Form ab und schöpft dem Stand ein abstraktes Gebilde, eine symbolische Form des aufrechten Stehens und Aufwärtsstrebens.

Giacomettis stehende oder ausschreitende Figurinen scheinen den Regeln des Gehens und Stehens wieder ohne Widerspruch zu gehorchen, schreiten sie doch isoliert auf weiten Plätzen aneinander vorbei (Platz von 1948/49, Die Waldlichtung, 1950, Schreitender Mann im Regen, 1949 u. a.), den Raum um sich mit der Aura ihrer materiell reduzierten Erscheinung erfüllend und wenden sich, auf Plinten oder flachen Sockeln nur wenig erhoben, aus dem Blick des Betrachters heraus. Sie erscheinen als Einzelgänger, stehen auf ungeheuren Füßen auf der ihnen angeglichenen Basis (Sieben Frauen für Venedig, 1956, Schreitender Mann 11, 1960 u. a.). Die ganze Kraft ihrer aufrechten Erscheinung ist in ihrem Stand verschmolzen, aus der Gelagertheit des Sockels, von dem sie sich erheben, ziehen sie die Kraft ihrer auf das Minimum des Körperlichen reduzierten Erscheinung, in der sich alles an Gestalt verbirgt und doch auch alles plastische Versprechen eingelöst wird: Volumen, Bewegung, Gestik, Mimik.

Rodins »Schreitender« ist mit beiden Beinen, trotz des weit ausholenden Schrittes, seinem Untergrund auf ganzer Standfläche verhaftet, als schmiege nicht er sich der Erde, sondern diese sich ihm an. Er tritt sie in herrisch besitzergreifender Geste, die eben deshalb auch den >Besitzstand< zeigt. Giacomettis Stehende und Schreitende aber sind mit der Erde verwurzelt bzw. ihr verhaftet, sie finden ihren Standort suchend und in der zaghaften Hoffnung, die Basis ihrer Existenz, die Erde, aus der sie sichtbar auch gestaltet sind, nicht zu verlieren.

Barnett Newmans »Here 1 (To Marcia)« von 1950 leugnet im Gegensatz zu den bisher als Zeugen herangezogenen Werken in der äußeren Form jeden Bezug auf die menschliche Gestalt. Der Hinweis auf das »Ich« ist dem Titelzu entnehmen. Die Höhe von 240 cm läßt einen körperlichen Bezug zum Betrachter als sinnfällig erscheinen. Die beiden senkrechten Bronzeleisten -die >malerisch< breite und zu den Seiten leicht ausfransende zur Linken wird rechts von einer gleichlangen, aber viel schmaleren, auch handgearbeiteten, aber geglätteten, begleitet - stehen, ihrem unterschiedlichen Volumen entsprechend, auf unterschiedlich großen, zu kleinen Hügeln angehäuften Sockeln, die in einer gemeinsamen flachen und erdig strukturierten Plinte zusammenfinden. Die Herkunft dieser Arbeit aus der Malerei ist offensichtlich; die Methode der außerordentlich langsamen Gestaltwerdung aus reduzierter Materie/Farbe gegenüber dem Umraum/der Fläche ist auch hier angewandt worden und überträgt sich in Form des verantworteten Handelns auf den empfindsamen Betrachter. »Ich« ist hier Konzentrat existentieller Entscheidung, ist Ortsbestimmung im Raum/vor der Fläche, ist Erscheinung in zweierlei Gestalt, emotional die eine Hälfte, rational die andere, beide voneinander nicht zu trennen, auf zwei Hügelchen, aber auf gemeinsamer Plinte miteinander verbunden. >Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.

In Andeutung und Verweisen, denen noch andere an die Seite gestellt werden könnten, ist versucht worden, Bezüge auf die Historie der Stand- und Balance-Skulpturen beispielhaft vorzuführen. Die Erfindung des Künstlers ist aus der Geschichte erwachsen. Michael Witlatschils Skulpturen versetzen den Betrachter zumeist in ungläubiges Staunen und veranlassen ihn meist, nach dem verborgenen Trick zu suchen, den es aber nicht gibt. Die Labilität seiner ausbalancierten Skulpturen, ihre potentielle Gefährlichkeit, die eine Ausstellung seiner Werke immer wieder zu einem Wagnis werden lassen, verführen den Betrachter dazu, die technischen Besonderheiten und die Gefährdung auch durch die zarteste Berührung als das Wesentliche, weil das Sensationelle seiner Skulpturen anzusehen und sich dann mit dem Gefühl der Erkenntnis der Überraschung zufriedenzugeben.

Die Sensation der Erscheinung ist aber nur ein Aspekt der Skulpturen Witlatschils, die ihr Wesen ebenso in ihrer Körperlichkeit, ihrer Dimensionierung und ihrer partnerschaftlichen Beziehung zum Aufstellenden, der nicht unbedingt der Künstler sein muß, evozieren, wie auch in ihrer direkten Beziehung zum Problem des Standes der frei stehenden Skulptur. Seine Arbeiten sind wie Stelen aufgerichtet, dem Stehen des Menschen als Balanceakt zwischen Halt und Bewegung verwandt, ja ihn in der Abstraktion und Reduzierung auf das Wesentliche übertreffend.

Sie halten sich im Schwebezustand zwischen dem empfindsamen Gleichgewicht eines »Rühr mich nicht an« und dem festen Stand des ~Mit beiden Beinen auf dem Boden<, sie verharren - einmal aufgerichtet - in extremer und das heißt idealer Position. Sie stehen, als sei das Stehen ein einmaliges und überwältigendes Erlebnis, als habe der Mensch sich eben erst von allen Vieren erhoben und aufgerichtet. Sie sind Standbilder in des Wortes ursprüng lichster Bedeutung: sie übertreffen alle ihre Vorbilder, denen das Stehen Anlaß oder Thema der Figuration ist, durch eine Reduktion auf das abstrakte Standmotiv, das in ihnen zum Bild vom aufrechten Menschen sinnbildlich geworden ist.

Witlatschils »Stände«, »Näherungen« und »Rückfühmngen« tragen in sich die Tradition dieser Vorbilder von den auf das Jenseits gerichteten, den Göttern geweihten Kouroi vorklassischer Zeit bis hin zu Barnett Newmans »Ich«-Metapher aus dem Geist der reinen Form. Im Aufrichten und im Aufgerichtetsein wird das Stehen und der ruhig gespannte Stand zum Erlebnis, Skulptur und Betrachter bzw. Akteur finden in der Handlung des Aufrichtens zusammen: das ist die neue Dimension des skulpturalen Erlebnisses, die Michael Witlatschil der Skulptur mit seinen Arbeiten erobert hat.

Während der Vorarbeiten zu diesem Katalog starb Marianne Trautvetter, Vorstandsmitglied des Westfälischen Kunstvereins und engagierte Freundin der Kunst. Der Erinnerung an ihre Begeisterungsfähigkeit ist dieser Katalog gewidmet.