Volker Gerhardt

Die Akrobatik der Dinge

Kantianische Gedanken vor Michael Witlatschils selbständigen Objekten

Kaum etwas dürfte heute schwerer sein, als einen Museumsbesucher zu überraschen. Nachdem die Kunst dazu übergegangen ist, die von ihr erwartete Erfahrungserweiterung durch spektakuläre Selbstüberbielung zu betreiben, ist der moderne Rezipient auf alles gefaßt, vor allem darauf, daß man ihn schockiert. Wo aber erklärtermaßen provoziert werden soll, wird sich niemand mehr ernstlich provozieren lassen. Umso erstaunlicher ist es, wenn es einem Kunstwerk dennoch gelingt, den Betrachter in ungläubiges Staunen zu versetzen. Daß dies weder durch einen spektakulären Affront noch durch grelle Effekte, weder durch hypertrophe Dimensionierung noch durch eine neue Variation auf den Refrain vom Ende der Kunst geschehen kann, versteht sich eigentlich von selbst. Die wahren Sensationen der Kunst finden stets nur im Betrachter statt. Dafür geben die Skulpturen Michael Witlatschils ein Beispiel.

An diesen Arbeiten, insbesondere an den frühen, ist für sich genommen kaum etwas bemerkenswert: Ein schlanker, mattglänzender Metallstab zum Beispiel, beinahe zwei Meter hoch und am unteren Ende schräg angespitzt. Sieht man von einer Kerbung in der Spitze ab, könnte man das aufrecht stehende Stück Stahl für eine sehr schmale, noch nicht aufgebohrte Orgelpfeife halten. Andere Arbeiten brauchten noch nicht einmal den Blick auf sich zu lenken: So ein vierkantiger Eisenpfahl, ebenfalls unten zugespitzt, oben auf der ganzen Breite angewinkelt; oder eine groß ausgeschweißte Stahlplatte, auffällig nur deshalb, weil sie in einen schrägstehenden, übermannshohen Träger eingeklinkt ist und bedrohlich in fast drei Metern Höhe über dem Boden schwebt; oder auch nur der mehrfach gewinkelte Vierkantstahl, der die Spuren von Walze und Fräse noch deutlich erkennen läßt und eben nur wie ein unfertiges Werkstück aussieht. Alle diese Stäbe und Stangen wirken für sich betrachtet wie Bauelemente, die nicht erkennen lassen, für welchen Zusammenhang sie gedacht sind. Und da man ein zugehöriges Ganzes nicht entdecken kann, bleiben auch die Teile ohne Bedeutung.

Und doch traut man seinen Augen nicht, wenn man diese Teile zum ersten Mal aus der Nähe betrachtet. Die Skulpturen sind nämlich nicht auf Podesten festgeschraubt, ihre Spitzen sind nicht etwa in den Boden eingelassen, sie werden auch nicht wie die »Filzwinkel« von Josef Beuys gegen die Wand gelehnt, sondern sie stehen frei - ganz ohne äußere Stütze. Sie halten Balance auf ihrer nadelgleichen Spitze!

Man stelle sich vor: Hans Uhlmanns Stahlplastik von 1956 - aber ohne die Verankerung in der Bodenplatte; Man Rays »Le retour ä la raison« - aber nicht aufgehängt, sondern hingestellt; Constantin Brancusis »L'oiseau« (1940) -vom Sockel gelöst, herumgedreht und sich selbst aufrecht auf dem Schnabel jonglierend. Man hält es nicht für möglich und bekommt eben dies in Witlatschils »Hohem Dreieck«, der »Feder« oder im »Stand 15« mit massiver Eindringlichkeit vor Augen geführt.

Durch die Raffinesse moderner Dekorationen an vieles gewöhnt, glaubt man zunächst nicht, was man sieht. Man sucht nach dem sichernden Nylonfaden oder schätzt ab, wo verborgene Magneten für die stabile Stellung sorgen könnten. Doch der lebensweltliche Argwohn findet keine Anhaltspunkte -: keine gläserne Stütze, keine unsichtbaren Drähte und erst recht keine verleimie Standfläche. Die zwei- oder dreigezackte Spitze der stählernen Objekte steht auf einer verspiegelten Scherbe. Man sieht, daß da nichts ist, was Halt geben könnte. Der Körper hält sich selbst im Gleichge wicht, wie ein Kreisel, der sich nicht mehr dreht und trotzdem aufrecht stehen bleibt.

Es ist ein stehender Widersprach. Die Bewegung ruht. Der Augenblick ist gebannt. Das Fallende hält sich selbst. Die Asymmetrie demonstriert ihre Ausgeglichenheit. Rohe Stahlelemente posieren in einer stillgestellten Pirouette. Schwere Körper scheinen nun mehr eine ironische Beziehung zum Boden zu unterhalten. - Selbst wer schon durch Berichte wissen konnte, was ihn erwartet, ist perplex, wenn die gespitzten Pfähle, die gewinkelten Stäbe und die an gefährlich geneigten Stangen lastenden Gewichte ausgeglichen vor ihm stehen. Es gibt Kinderspielzeug, das im Kleinen ähnliche Konstruktionen erlaubt; aber daß es möglich ist, meterhohe S tahlkonstruktionen gleichsam Kopfstand machen zu lassen, ist ein technisches Wunder .

Technische Leistungen aber lassen sich erklären und rational nachvollzie hen. Die Konstruktionen sind eben gut berechnet. Ihre millimetergroße Standfläche liegt exakt unter ihrem Schwerpunkt, der Untergrund ist waagerecht, Berührungen und Erschütterungen müssen vermieden werden, und das große Gewicht erhöht nur die Trägheit, begünstigt also die Standfestigkeit des Gebildes. Alles das läßt sich kalkulieren und ausprobieren. Und so bleibt von der ersten Verwunderung nunmehr die Hochachtung vor dem handwerklichen Können des Erbauers. Natürlich auch die Anerkennung seines originellen Einfalls; seinen Möglichkeitssinn, nach Musil das wichtigste Organ des Künstlers, hat er mit der gelungenen Irritation des Betrachters unter Beweis gestellt. Doch verbindet sich mit dem Erstaunen auch eine ästhetische Erfahrung? Wodurch werden die technisch interessanten Objekte zur Kunst?

Nichts scheint überflüssiger als diese Frage. Die Beliebigkeit dessen, was sich heute als Kunst präsentiert, macht sie zumindest praktisch folgenlos. Die Vorurteile gegenüber begrifflichen Bestimmungen der Kunst sind mittlerweile so stark geworden, daß man sich nur laut genug gegen Begriff und Theorie erklären muß, um als Künstler zu gelten. Aber selbst solche Gedankenlosigkeiten enthalten mehr Gedankliches als ihnen lieb sein kann. Die propagierte Mißachtung der Theorie beruht selbst auf einer Theorie -wenn auch auf einer schlechten 1). Deshalb können wir sie getrost übergehen. Begriffe und Theorien sind schließlich keine zu den vermeintlich bloß konkreten Gegebenheiten des Daseins hinzuerfundenen Allgemeinheiten, sondern sie ergänzen nur die unvermeidliche Allgemeinheit einer jeden Verständigung durch die Möglichkeit, sich über die Allgemeinheit selbst zu verständigen.

Es sind also nicht die Theoretiker, die Begriffe und allgemeine Bestimmungen in die Welt bringen. Die Begriffe sind spätestens da, wenn Menschen sich durch Zeichen oder Worte verständigen. Erfahrung ohne Begriffe gibt es nicht. Wem es gelänge, sich gänzlich von ihnen freizuhalten, der würde auch nichts mehr erleben. Theoretiker (wenn sie gut sind) bringen die unvermeidlichen Allgemeinheiten unserer Erfahrung lediglich zu Bewußtsein, machen es also möglich, daß man Begriffe nicht nur gebraucht, sondern als solche auch erkennt, näher bestimmt und gegebenenfalls korrigiert. Und so kam auch die Theorie im Bereich der Kunst keine andere Aufgabe haben, als die Mitteilungsfahigkeit zu erhöhen. Wer glaubt, durch theoretische Urteile die Kunst faktisch eingrenzen zu können, hat vermutlich eine falsche Auffassung von der Kunst; mit Sicherheit hat er einen falschen Begriff von Theorie.

Die Frage nach dem ästhetischen Charakter der freistehenden Objekte zielt also nicht auf eine normative Zensur der künstlerischen Produktion, sondern dient lediglich der besseren Verständigung über die Erfahrungen, die sie uns ermöglicht. Freilich bleibt die Verständigung nicht ohne Einfluß auf die Erfahrung selbst. Die Differenzierung unserer Mitteilungsfähigkeit läßt die Wahrnehmung nicht unberührt. Schon die Diskussion darüber, ob etwas Kunst ist oder nicht, verfeinert den Geschmack, wohlgemerkt: sie schafft ihn nicht, aber sie bildet ihn.

Was also macht die technisch bemerkenswerten Objekte Michael Witlatschils zu Gegenständen des ästhetischen Interesses? Die Antwort scheint die Frage erst recht überflüssig zu machen: Es ist zunächst und vor allem die technische Perfektion, mit der eine Idee verwirklicht wird. Die Sicherheit im Umgang mit dem Material, die Meisterschaft in der Beherrschung der Mittel, legt immer noch den ersten Grund zur Kunst. Perfektion ist nicht Sterilität, sondern nur der Ausdruck dafür, daß Wollen und Können zur Deckung kommen. Die vollendete Verfügung über den Stoff, in der die ältere Ästhetik bereits das hinreichende Kriterium des Kunstwerks namhaft machte, hat heute immer noch als notwendige Bedingung zu gelten.

Worin allerdings die Meisterschaft zu sehen ist, das wird weder von der Natur noch vom Stand der Technik objektiv vorgegeben, sondern es bestimmt sich allein in Relation zur künstlerischen Absicht. Beim ready made interessiert es nicht, ob der Künstler es auch selbst hätte herstellen können; das action painting hat sein Kriterium nicht in einer vorgestellten Form; die do-it-yourself-Kunst ist überhaupt nur auf die Aktivierung des Einzelnen gerichtet. Doch auch hier wird unterstellt, daß jeder Einzelne, sei es in der freien Phantasie oder in der getreuen Kopie, sein Bestes zu geben hat. Die Perfektion der Aktionsmalerei liegt in der gesteigerten Unmittelbarkeit des Ausdrucks, und das souveräne Können eines Marcel Duchamp zum Beispiel tritt in der Kombination von Epochenbewußtsein, Selbstironie, optischer Reizbarkeit und theatralischer Begabung hervor. Gerade die Kunstdes20. Jahrhunderts hat uns gelehrt, die ästhetischen Leistungen nicht erst an den Produkten abzulesen, sondern sie bereits in den Prozessen zu erkennen, und sie hier in allem zu entdecken, was die Empfänglichkeit und Ausdrucksmöglichkeit des Subjekts steigert. Das Ziel der Steigerung, wie z. B. Nietzsche sie aller Kunst zur Aufgabe machte, ist nichts anderes als das vom antik (platonischen) Sein ins modern (experimentelle) Werden transponierte Ideal der Vollkommenheit, ist Perfektion unter Bedingungen einer nur noch als Prozeß begriffenen Realität. Unter solchen Bedingungen kann selbst noch der Zufall als Ingenium begriffen werden, weil er Chancen sichtbar macht, die man so vorher noch nicht kannte. Die Forderung, im ästhetischen Akt das jeweils mögliche Maximum zu demonstrieren, ist nicht suspendiert. Und dort, wo die künstlerische Absicht auf die Herstellung von Körpern mit bestimmten Eigenschaften zielt, zeigt sich das Beste immer auch im perfekten Umgang mit dem Material.

Daß damit kein enger dogmatischer Maßstab angelegt wird, tritt in der Auszeichnung der Skulpturen Michael Witlatschils von selbst hervor. Für sich genommen wirken sie keineswegs wie Meisterwerke. Die Stücke sind zum Teil so belassen, wie man sie vom Stahlhandel beziehen kann. Bei einigen ist auf die Oberfläche keine besondere Sorgfalt verwendet, die Spuren von Schwingschleifer und Feile sind noch zu erkennen, die eingehängten Platten könnten auch Abfallprodukte sein. Ein Schtniedemeister fände für sie wohl so wenig Anerkennung wie für die Plastiken von Richard Serra oder Lucio Fontana. Zwar beweist Witlatschil in seinen jüngeren Arbeiten, daß er sich auch auf eine gefällige Verarbeitung des Materials versteht. Aber darin liegt nicht das Können, von dem hier die Rede ist. Die ästhetische Absicht zielt im Wesentlichen darauf, die Skulpturen zum freien Stand zu bringen. Und nur in der Realisierung dieser Absicht zeigt sich die Meisterschaft.

Dabei kann es den Effekt durchaus verstärken, wenn die Körper grob, unbearbeitet oder unauffällig wirken. So läßt das Aussehen nicht vermuten, was sie, in die richtige Lage gebracht, vermögen. Um stehen zu können, benötigen sie weder metallischen Glanz noch eine ideale Form. Allerdings würde es ihrer Leistung auch nicht widerstreiten, wenn sie optisch sinnfälliger gestaltet wären. Witlatschil ist kein Romantiker der stofflichen Ursprünglichkeit - was bei hochwertigem Stahl, der in jedem Fall einen aufwendigen Herstellungsprozeß hinter sich hat, auch auf eine offenkundige Dummheit hinausliefe. Ob polierte oder rauhe Fläche, ob grobes oder feines Material, ob Augenmaß, geometrische Berechnung oder wilde Maßlosigkeit - das sind selbst wieder nur Formelemente, sofern sie sich einer leitenden Absicht fügen. Die Absicht ist hier: labile Dinge ins Gleichgewicht zu bringen, und sofern dies gelingt, tritt das handwerkliche Können des Künstlers hervor, mag ihn das ständische Handwerk schätzen oder nicht.

Die entscheidende Frage ist nun aber, was denn in diesem Können hervortritt. Worin liegt die Kunst? - Offensichtlich nicht darin, daß hier Gebrauchs- oder Tauschwerte geschaffen werden. Natürlich, das ist eine Binsenwahrheit, kann ein Kunstwerk auch nützlich sein, nützlich für den Künstler, für seine Zeitgenossen oder für die Nachwelt. Es kann theoretische Einsichten fördern, religiöse oder pädagogische Ansichten vermitteln, kann ein kulturelles Erbe repräsentieren oder als Wertanlage dienen. Schließlich soll es auch den Lebensunterhalt verschaffen. Alles das sind Nebeneffekte der Kunst, die sie meist begünstigen und ihr nur selten Abbruch tun. Ihr Wesen aber hat sie darin nicht, wie sich an den freistehenden Objekten sinnfällig zeigt: Es ist keine pädagogische, moralische oder sonst irgendwie verdienstvolle Tat, leblose Dinge so aufzustellen, daß sie keiner Stütze bedürfen; bei einer starken Erschütterung, vielleicht auch schon bei kräftigem Durchzug, stürzen sie doch. Es ist gewiß auch keine wissenschaftliche Leistung, die Körper ins Gleichgewicht zu bringen; niemand wird behaupten, unser Wissen über die Wirkkräfte der Gravitation sei dadurch in irgendeiner Weise erweitert.

So gesehen sind die Objekte ohne alles Interesse. Was natürlich nicht heißt, daß wir uns für sie nicht interessierten. Im Gegenteil: Wir betrachten sie gern, reden über sie und versuchen sogar, über sie zu schreiben. Unter Umständen interessieren sie uns so stark, daß wir sie am liebsten selbst besitzen möchten oder doch wenigstens ihren Ankauf für ein Museum befürworten. Die verschiedenen Interessen sind nicht der Grund für die Anerkennung des Kunstwerks, sondern sie sind bereits die Folge der erstaunlichen Tatsache, daß diese Werke gar keiner moralischen, sozialen oder szientifischeu Motive bedürfen, um uns anzusprechen. Sie sind also weder nützlich noch erbaulich, stellen keine theoretischen Einsichten dar und benötigen auch kein Ganzes, in das sie sich zweckmäßig einfügen lassen. Sie genügen sich selbst und machen eben dadurch Eindruck auf den Betrachter.

Die Selbstbezüglichkeit der freistehenden Skulpturen aber kann es allein nicht sein, was unsere Aufmerksamkeit erregt. Wir können jeden beliebigen Gegenstand in seinem Umfeld isolieren und bloß als solchen betrachten. Aber nicht jeder Gegenstand wird uns, nur weil er für sich steht, deshalb auch schon gefallen. Ästhetisch wirkt er nur dann, wenn er in sich eine gewisse Stimmigkeit hat, wenn in seiner zufälligen Besonderheit doch etwas Einzigartiges aufscheint, das uns nicht gleichgültig läßt. Der ästhetische Gegenstand scheint uns etwas mitzuteilen, das sich nicht eindeutig in Worte fassen läßt; er hat eine Botschaft, die uns berührt, obgleich wir nicht sicher sind, was sie bedeutet.

Das sind, in etwas anderer Umschreibung, die inzwischen klassisch gewordenen Kriterien des Schönen, wie sie in Kants »Kritik der Urteilskraft« entwickelt sind. Interesselosigkeit, Zweckmäßigkeit ohne Zweck, Allgemeinheit ohne Begriff und subjektive Notwendigkeit des Geschmacksurteils stellen sich vor den freistehenden Plastiken wie von selber ein. Der ganz seinem inneren Gleichgewicht überlassene Körper ist sich selbst genug. Von jeder Stütze befreit, ruht er in sich. Die Spitze, auf der er zu schweben scheint, berührt auf der retlektierenden Scheibe nur ihr eigenes Spiegelbild. In extremer Lage hat der Körper zu vollendeter Ruhe gefunden. Er meditiert - und dies unter widrigsten Umständen. Gerade weil man seine Gefährdung, die Labilität seiner Balance vor Augen hat, wird er zum Ausdruck innerer Harmonie. Es ist sinnlos, hier nach äußeren Zielen und Absichten zu fragen; ein selbständiger Akt dieser Art ist in sich selbst gerechtfertigt, er ist, wie es bei Kant heißt, ~>zweckmäßig«, ohne auf äußere Zwecke bezogen zu sein.

Müßig wäre es auch, die Bedeutung dieses Akts auf eine Aussage zu reduzieren. Er sagt uns vieles und möglicherweise immer wieder etwas anderes. In der Wahrnehmung des Betrachters werden die freistehenden Dinge lebendig. Sie halten sich auf ihrer Spitze, wie Tänzer, die ihre extremste Stellung genießen. In dieser künstlichen Position wirken sie alles andere als unnatürlich und steif. Ja, die sperrigen Teile zeigen Grazie und eine federnde Anmut. Man entdeckt die Implikationen des aufrechten und freien Standes: Ohne Mühe liest man menschliche Züge in die rohen Eisenstücke hinein: sie erscheinen unabhängig, unbeschwert, j a sogar heiter und stolz.

Bedenkt ma n, wie bedeutsam di e Metaphorik d er »Selbständigkeit« und des »aufrechten Ganges« für das Selbstverständnis des Menschen ist, wie sehr es in allem darauf ankommt, auf »eigenen Füßen« zu stehen, in entscheidenden Augenblicken »standhaft« zu bleiben und sich im Alltag nicht aus dem »Gleichgewicht« bringen zu lassen, dann versteht man, daß sich Anthropomorphismen einstellen, wenn einfache Dinge mit einem Mal aufrecht stehen. Stünden sie auf breitem, sicherem Fuße, käme einem dieser Vergleich gar nicht in den Sinn. Da sie sich aber auf ihrer Spitze in unwahrscheinlicher Lage halten, drängt sich der Eindruck einer eigenen Leistung - und damit der Vergleich mit dem menschlichen Subjekt- auf. Sie schaffen den aufrechten, freien Stand, sie demonstrieren Haltung und wahren mit dem Gleichgewicht auch überlegenen Gleichmut.

Das alles gelingt ihnen unter schwierigsten Bedingungen. Deshalb scheinen sie dem Betrachter sogar noch etwas vorauszuhaben: Sie führen ihm vor, was er von sich selbst verlangt. Und indem sie zu Lehrmeistern in der ursprünglich menschlichen Haltung werden, scheint mit dem artifiziellen Zehenspitzenstand der Dinge die Beziehung zwischen Mensch und Dingen in paradoxer Weise verkehrt: Es sind die Sachen, die hier den Menschen belehren; sie setzen Möglichkeiten frei, in denen letztlich nur er selbst sich verwirklichen kann.

So oder anders kann sich der Betrachter die Skulpturen deuten. Er legt sie damit nicht fest und schöpft ihren Sinn nicht aus. Aber was immer er aus ihnen heraushest, hat allgemeinere Bedeutung. Das Kunstwerk repräsentiert mögliche Wahrheiten und erschließt sie einem empfänglichen Subjekt, das sich darin selbst als Repräsentant eines größeren Zusammenhangs erfährt. Insofern greift die ästhetische Erfahrung über die Zufälligkeit des Augenblicks hinaus, freilich auch hier ohne eindeutig zu werden. Ob »die Natur<, >das Leben« oder >der Geist« zu mir als einem kreatürlichen oder geistigen Wesen sprechen, das wird durch die Kunst selbst nicht festgelegt. Gleichwohl ist das ästhetische Erleben nicht privativ. Die schönen Dinge werden vor einem imaginären Hintergrund erfahren, vor dem der Betrachter nicht allein ist. Das gesteigerte individuelle Bewußtsein begreift sich - und fühlte es sich noch so einsam - als repräsentativ. Das Kunstwerk wird zum Zeichen Lind der Betrachter zum Organ.

Offen bleibt, wofür das Zeichen steht, und offen ist nicht minder, wem das Organ eigentlich dient. Zu ermitteln ist nur, daß im ästhetischen Akt beide, das Kunstwerk und der Betrachter, exemplarisch werden. Man urteilt so, als müsse jeder andere, der von ähnlichen Voraussetzungen ausgeht, zur gleichen Ansicht gelangen. Daran ändert wenig, daß mm bei anderen kaum auf gleiche Ansichten stößt und auch das eigene Urteil sich als wechselhaft erweist. Im Gefühl einer gesteigerten Subjektivität treffen das, wofür das Kunstwerk steht, und das, wofür sich der Betrachter hält, zusammen. In der individuellen Konfiguration von Material und Form tritt etwas Allgemeines hervor, das nicht nur das zufällig anwesende Individuum, sondern prinzipiell alle Individuen betrifft, sofern sie sich überhaupt vom ästhetischen Gegenstand ansprechen lassen. Im ästhetischen Akt, so könnte man auch sagen, werden Subjekt und Objekt transparent. Beide werden zum Medium, durch das eine größere Einheit, der beide zugehören, sich auszudrücken scheint.

Auf die Einheit, die das Kunstwerk repräsentiert, zielt Kants Rede von der "Allgemeinheit ohne Begriff«, und das Gemeinsame, für das die erlebende Subjektivität exemplarisch ist, tritt unter dem Titel der »Notwendigkeit« des Wohlgefallens hervor. Die freistehenden Skulpturen erlauben, den Gehalt dieser abstrakten Bestimmung sinnfällig zu machen: Die einzelne Figur steht nicht für sich allein, sondern sie führt etwas vor, was prinzipiell allen Körpern möglich ist; insofern drückt das Urteil, sie sei »schön< etwas Allgemeines aus. Und so gibt eine schöne Skulptur dem Betrachter zugleich ein Beispiel für etwas, das nicht nur ihn selbst in seiner Existenz berührt;

insofern glaubt er gar nicht umhin zu können, seine Zustimmung auszudrücken. Der Vieldeutigkeit des Kunstwerks korrespondiert somit der Bedeutungsaufschwung seines Betrachters. Während sich das eine (das ästhetische Objekt) zum Symbol verdichtet, erfährt sich der andere (der »belebte«, der »begeisterte« Betrachter) als dessen möglicher Schlüssel. In der Distanz zu den Gemeinplätzen des Alltags stehen sich das höchst subjektive Produkt eines Künstlers und ein subjektiv urteilender Museumsbesucher gegenüber; indem der Betrachter aber die »Sprache« des Kunstwerks zu vernehmen glaubt, verleiht er nicht nur dem ästhetischen Gegenstand einen objektiven Rang, sondern er macht sich selbst zum Organ eines Allgemeinen. Diese Selbstaufwertung beider Seiten läßt sich in der ästhetischen Erfahrung der freistehenden Skulpturen numerisch nachvollziehen, indem man wechselweise das Objekt und sich selbst mit dem ausstattet, was erst dem anderen und dann einem selbst noch fehlt. Freiheit, Selbständigkeit, Gleichmut und Konzentration auf sich selbst werden, wie in der psychoanalytischen Übertragung, erst dem anderen zugemutet, um sie dann selbst wieder von ihm zu übernehmen.

Als ersten Akt einer Übertragung kann man bereits die Aufstellung einer Plastik durch Michael Witlatschil deuten. Ich sage nicht, daß man eine solche Aufstellung gesehen haben muß, um die selbständigen Objekte zu würdigen. Sie machen auch so Eindruck und sind auf eine »Aktion« nicht angewiesen. Es dürften auch nicht die besten Bilder oder Statuen sein, die man erst schätzen kann, nachdem man ihrer Entstehung beigewohnt hat. Wenn dem Drama ihrer Produktion eine besondere Bedeutung zukommt, wenn Spontaneität, meditative Versenkung oder Ekstase eine besondere Rolle spielen sollen, dann müssen sie trivialerweise ins Kunstwerk selbst eingehen und auch darin sichtbar bleiben.

So ist es auch bei den freistehenden Skulpturen. Sie halten den Augenblick ihrer Aufstellung fest. Die offenkundige Gefährdung ihrer Stellung läßt am Wagnis der Exposition nicht zweifeln. Da man sieht, wie leicht sie stürzen können, hat man auch gleich im Blick, daß es außerordentlicher Geschicklichkeit bedarf, um sie in die aufrechte Position zu bringen. Die Verwunderung darüber, daß es überhaupt möglich ist, so exzentrische Gestalten ihre eigene Ruhe finden zu lassen, ist hier schon ein Bestandteil der Wahrnehmung. Also bedarf es der Teilnahme am Akt ihrer Aufstellung nicht, um die Spannung und das Glück vor diesen Figuren zu genießen.

Gleichwohl hat es einen zusätzlichen Reiz, den Künstler bei der Errichtung einer seiner Skulpturen zu beobachten: Auf die Präparierung der Standfläehe verwendet er weniger Sorgfalt als man vermuten möchte. Der Boden wird nur kurz abgewischt, die Glasscherbe mit dem Ärmel blankgerieben und schon wird das Metallstück aufgesetzt. Dann aber setzt Spannung ein: Der Stab wird in die mutmaßliche Mittellage dirigiert und dann seiner eigenen Neigung überlassen. Natürlich kippt er sofort, droht mal nach dieser, mal nach der anderen Seite zu fallen. Wo immer er sich neigt, wird er augenblicklich mit sanftem Fingerdruck korrigiert. Fällt er den stützenden Fingern nicht gleich wieder hinterher, dann kippt er in eine andere Richtung. Soll er hier nicht stürzen, ist Gegendruck von dieser Seite nötig . So wird der Stahl immer von neuem sich selbst überlassen und um Bruchteile von Millimetern seiner Gleichgewichtslage näher gebracht. Wenn es gut geht, werden die Abweichungen immer geringer und sind für das Auge schließlich kaum noch wahrnehmbar. In immer kleiner werdenden Schwankungen nähert sich das Objekt seiner Ruhestellung.

Der Künstler verläßt sich ganz auf das Gespür seiner Hand . Die Beine leicht gespreizt, die Standscherbe nur wenige Zentimeter vor sich und den Blick auf die Spitze und ihr Spiegelbild gesenkt, steht er mit der konzentrierten Spannung eines buddhistischen Bogenschützen. Äußerlich regungslos demonstriert er innere Festigkeit, als wolle er dem labilen Metall ein Beispiel geben. Die Kommunikation mit dem Gegenstand ist sichtbar, eine lautlose Überredung, wie eine Beschwörung, die keiner Worte bedarf. Eine spiritistische Übertragung wäre so gewiß äußerst wirkungsvoll inszeniert. Und wenn es nicht Magie ist, dann ist es Erziehung, Assistenz bei der Vollendung eines akrobatischen Akts.

Gelegentlich kommt es vor, daß der seinem Kunstwerk assistierende Künstler die Suche nach der Gleichgewichtslage aufgeben muß. Dann wird die Spitze auf dem Glas um Millimeter verschoben und von neuem justiert. So kann es zehn, zwanzig Minuten, j a bis zu einer Stunde dauern, bis die Plastik ihre Stellung in der mimetischen Angleichung zweier Körper gefunden hat. Die Fähigkeit des einen geht auf den anderen über. Im autonomen Stand schwingt der stählerne Körper nur noch leicht in sich, schwankt aber nicht mehr und hat mit einem Mal die freie Haltung, die ihn seinem Produzenten ähnlich macht.

Ehe es so weit ist, löst sich die Hand zögernd von dem Metall, faßt wieder zurück, stützt und lenkt noch einmal unmerklich, gibt dann schon etwas mehr Spielraum, geht noch mehrmals hilfsbereit in die Nähe, ohne aber berühren zu müssen und entfernt sich schließlich behutsam von der Figur, die nunmehr frei, ganz sich selbst überlassen steht.

Wer jemals eine solche Aufstellung miterlebt hat, der wird nicht zögern, sie dramatisch zu nennen. Wenn der Künstler, sein Objekt sekundenlang noch wie ein Dompteur fixierend, langsam zurücktritt und seine Haltung sich allmählich entspannt, löst sich auch die Spannung des Betrachters. Ein gewagter Dressurakt ist gelungen. Ein Mensch hat eine Sache belehrt, hat einem einfachen Gegenstand eine komplizierte Leistung beigebracht und ihm damit zu einem veritablen Kunststück verholfen. Dem ingeniösen Künstler gelingt es, aus einem überlastigen Stahlstück einen Akrobaten zu machen - »Akrobaten«, das sind nach dem griechischen Wortsinn die, »die auf der Spitze stehn,<.

Die Akrobatik der Dinge wird hier nicht nur ohne sensationelle Effekte vorgeführt; sie kommt auch ohne Verrenkungen und Gewaltsamkeiten aus. Nachdem die Stangen und Stäbe, die Pfeiler und Platten erst einmal ihre Form haben, brauchen sie nur noch in ihr Gleichgewicht gebracht zu werden, um in die scheinbar schwerelose Spitzenstellung zu finden. Ihnen wird nichts aufgezwungen. Die Dressur befördert sie lediglich sanft in ihr eigenes Gesetz. Es gibt daher einen guten Sinn, von ihrer »Autonomie« zu sprechen. Sie haben in ihrer physischen Existenz bereits die Eigengesetzlichkeit, die ihnen als Kunstwerk im übertragenen Sinn zukommt. So wie sie als ästhetische Produkte auf keinen gründenden oder bindenden Sinn angewiesen sind, so bedürfen sie auch in ihrer Selbständigkeit keiner äußeren Stütze. Sie folgen allein ihrer Schwerkraft und werden darin frei. So repräsentieren sie in ihrer materiellen Konstitution ihren ideellen Gehalt. Auch in dieser Hinsicht wird die ästhetische Erscheinung an diesen Objekten exemplarisch: Das Prinzip, welches sie zu Kunstwerken macht, bestimmt auch ihr reales Dasein, wodurch ihr ästhetischer Reiz sich notwendig steigert.

Diese Notwendigkeit läßt sich nur behaupten, weil es hier um Dinge geht. Träfen wir in der gleichen Verschränkung die existentielle und die ästhetische Autonomie beim Menschen an, hätten wir ein Wesen vor uns, das selbständig und in dieser Selbständigkeit auch schön zu nennen wäre. Damit aber liefe die Verschränkung auf eine Identität des Schönen mit dem Guten hinaus, eine Einheit, die wir zwar wünschen können, auf die wir vielleicht sogar hoffen dürfen, die wir aber schon nicht mehr begründen können. Bei den autonomen Objekten dagegen ist die Einheit von innerer Bestimmung und äußerer Form bereits das gegebene Prinzip ihrer Existenz. Mit der Vollendung des einen, d. h. im freien Stand, ergibt sich unmittelbar auch die Entfaltung des anderen, d. h.: der ästhetische Reiz. Mit dem einen würde unvermeidlich auch das andere zerstört.

Das ist natürlich ein höchst spekulativer Gedanke, der vor allem nicht dazu verleiten darf, die das ästhetische Erleben tragende Analogie zwischen dem aufrechtstehenden Menschen und dem freistehenden Ding aus dem Blick zu verlieren. Natürlich gibt es den Unterschied zwischen dem selbsthandelnden menschlichen Subjekt und dem von fremder Hand in eine Gleichgewichtslage gebrachten Objekt. Im strengen Sinn des Wortes kommt der Begriff der Autonomie nur menschlichen Handlungen und Urteilen zu, und hier gibt es keine eindeutige Entsprechung zwischen einer autonomen (moralischen) Tat und einem autonomen (ästhetischen) Urteil. Wenn wir uns aber die ästhetische Freiheit nehmen, auch ein auf seiner Spitze balancierendes Objekt als »autonom« zu bezeichnen, dann gerät diese Autonomie derHaltung nicht in Widerspruch zur Autonomie des Schönen. Im Gegenteil: Die freie Haltung bringt den ästhetischen Reiz erst hervor. So unterscheiden sich der autonome Mensch und das autonome Ding in ihrer Beziehung zur Schönheit.

Doch daß wir überhaupt von »autonomen Dingen< sinnvoll sprechen können, hat seinen Grund bereits in der unterstellten Analogie zwischen dem Menschen und den freistehenden Objekten. Wir suchen ein Gegenüber und finden es in überlegener Form in den erst von uns zur Mündigkeit gebrachten Dingen. Wir suchen nach dem Adeal der Schönheit«, wie Kant es nannte, nach unserem Ebeabild also. Es tritt uns in den Plastiken Michael Witlatschfls in äußerster Abstraktheit entgegen. Wären nicht die Titel einiger Arbeiten, dann würde nichts an ihnen nötigen, eine Beziehung zum Menschen herzustellen. Gleichwohl bietet sich die Identifikation mit ihnen an: Mit äußerem Beistand in eine höchst gefährdete Lage gebracht, letztlich ohne sichernden Halt auf einem zerbrochenen Spiegel stehend, unter sich erkennbar nur den Antipoden - und sonst nichts. Es fällt nicht schwer, darin auch ein Sinnbild der menschlichen Existenz zu entdecken. In den Werken mit dem Titel »Ich« ist die Assoziation zur existentiellen Selbsterfahrung sogar thematisch vorgegeben.

Die jüngeren Arbeiten Witlatschils führen vor, daß der freie Stand nicht notwendig Einsamkeit bedeutet. In der Serie »Näherung A«, >B<, »D« usw. balancieren zwei aufeinander bezogene, sich aber nicht berührende Objekte auf einer Scherbe. Sie vollziehen die gleichen Schwingungen, verjüngen oder verstärken sich aufeinander zu. An jeweils einem Ende nähern sie sich asymplotisch, am anderen Ende streben sie ins Unendliche voneinander fort. Die Selbst-Ständigkeit der beiden Teile ist nicht aufgehoben; jedes steht für sich allein und bildet doch mit dem anderen eine Einheit. Sowohl in der äußeren Form wie auch in ihrer riskanten Existenz sind sie aufeinander bezogen.

Wenn man die Skulpturen als Symbole der menschlichen Existenz versteht, dann sollte man das Herausfordernde in ihrer Präsentation nicht übersehen. Aus der Zumutung des freien Standes wird ein leichter, tänzerischer Akt. Die Dinge erweisen sich als gelehrig und bringen es zu eigener Meisterschaft. Die ihnen mit der Trennscheibe und unter dem Schneidbrenner aufgenötigte Form wird zu geschlossenen, eindrucksvollen Gestalt, sobald sie in ihr Gleichgewicht gefunden haben. Neben schön bearbeiteten Säulen (»Die Kupferne«) sehen wir schräge, fleckige Rollen (»Stand XIV«), eingeknickte Stäbe und mehrfach gewinkelte Stangen. Die Willkür ihrer Formgebung wird aber aufgehoben, sobald die Dinge sich aus eigener Kraft aufrecht halten. In der Selbstbeherrschung verschwinden die Zeichen der äußeren Bearbeitung. Alles fügt sich der mit dem freien Stand evident werdenden »inneren« Notwendigkeit.

Hierin liegt das Vorbildliche der Figuren. Sie demonstrieren die Fähigkeit der Integration auch noch des Fremdesten in ihr eigenes Wesen. Was immer ihren aufrechten Stand erlaubt, gehört ihnen zu. Daß auch den Menschen diese Fähigkeit auszeichnet, scheint vergessen, wenn heute jeder Wandel der Lebenswelt als »Entfremdung« beargwöhnt wird. »Entfremdung« kann

nur entstehen, wo ein unverwechselbares Selbst, etwas >~Eigenes~<, gegeben ist. Ein solcher unverwechselbarer Wesenskem des Menschen dürfte aber schwerlich auszumachen sein. Das Eigentliche des Menschen liegtwohl eher in seinem Verhältnis zu den Dingen und zu sich selbst. Das Humane ist an keine Substanz gebunden, sondern es zeigt sich in Relationen, also darin, wie sich der Mensch zur Welt in Beziehung setzt. Wenn dies nur, wie bei den freistehenden Objekten, aufrecht, selbst-ständig, d. h. in eigener Verantwortung geschieht, wird der Mensch sich selbst nicht fremd - seine Lebensbedingungen mögen sich wandeln, so schnell sie wollen. Es ist stets der aus »krummem Holz« geschnitzte Mensch, der aufrecht geht. Wer in dieser Äußerung hatmarmel Kants einen Widerspruch vermutet, dürfte darin nach der Betrachtung der Figuren Michael Witlatschils nicht mehr so sicher sein.

Um nicht den Eindruck zu erwecken, alle Betrachtung der homoostatischen Objekte laufe auf die Analogie mit dem Menschen hinaus, möchte ich mit einer kunsttheoretischen Frage schließen: Was zeigt sich in diesen Skulpturen eigentlich: Schönheit der Kunst oder Schönheit der Natur? Nach dem Lob auf die technische Perfektion der Produktionen mag die Frage abwegig erscheinen. Natürlich ist hier ein Künstler am Werk, der nach seiner freien Vorstellung tätig ist. Und wie andere Künstler auch bedient er sich mehr oder weniger natürlicher Materialien, in deren Verwendung er auf Naturgesetze angewiesen ist. Jeder Bildhauer rechnet mit der Schwerkraft; deshalb montiert er seine Objekte ja fest auf einen Sockel. Jeder Maler vertraut auf die optischen Gesetze und verläßt sich darauf, daß seine Farben trocknen. Insofern bleibt auch die subärriste Kunst an Naturkräfte gebunden.

Man sieht aber sofort, daß die Vergleiche hinken. Witlatschil vertraut nicht nur auf das Naturgesetz der Gravitation, sondern er stellt es dar. Er stellt es zumindest insoweit dar, wie auch die Mobiles die Hebelwirkungen oder die Luftströmung zur Anschauung bringen. Deshalb ist es angemessen, die Mobiles von Alexander Calder, wie Sartre es tat, als Zwischenwesen zu bezeichnen: als »lyrische Schöpfungen und zugleich technische, beinahe mathematische Gebilde und überdies auch als das eindrucksvolle Symbol der Natur, jener großen, unfaßbaren Natur.. « 2). Kommt in den ganz und gar ihrem eigenen Gewicht anheimgestellten Körpern nicht die Natur noch deutlicher zum Vorschein? Sieht man nicht von allen bewußt erzeugten Eigenschaften des Gegenstandes ab? Seine Form und seine Oberfläche werden sekundär. Entscheidend ist allein, daß der Körper steht. Diese Tatsache entsteht allein durch die ingeniöse Nutzung natürlicher Bedingungen. Sie wird zwar durch Technik vorbereitet, ist als solche aber reine, immer schon wirksame Natur. Der Künstler fungiert als versierter Arrangeur eines Naturereignisses. Unter hochzivilisierten Bedingungen, in der kunstvollen Umgebung eines Museums gelingt ihm das veritable Kunststück, einen elementaren Vorgang der Natur in seiner berechenbaren Schlichtheit sichtbar

zu machen. Unter artifiziellen Bedingungen ist es nichts als Natur, die sich hier ~>schön« - und nach einiger Betrachtung auch »erhaben~ - zeigt.

Und doch wird man mit dieser gewiß zutreffenden Antwort nicht zufrieden sein. Zu offensichtlich ist die genau kalkulierte menschliche Leistung, die der Natur dazu verhilft, ihre Eigenart auf überraschende Weise zu zeigen. Es ist eine durch Technik gelenkte, durch Arbeit disziplinierte und zugleich animierte Natur, die sich hier so selbständig darstellt. Die »freie« Natur, durch planvolle Absicht gezwungen, tritt hervor. Von einem Gegensatz zwischen Herrschaft und Freiheit kann hier keine Rede sein. Die Natur ist zum Mitspieler des Menschen geworden. Sie läßt sich auf den ein, der sich auf sie einläßt. Indem die Plastiken Michael Witlatschfls dieses Zusammenspiel mit höchster Perfektion und doch absichtslos sichtbar machen, gehören sie zur Kunst - eine große Kunst, wie mir scheint.

1) Vgl. d: U. Fwk, / V, Gerhardt, Die Kunst gibt zu denken Münster 1981, 10-19.
1) J.-P. Sartre-, Les Mobiles de Calder, i. Ausstelungskatalog f. A, Calder, Paris, 25. - 16. Nov. 1946.