Einige Gedanken zum Werk Michael Witlatschils und seiner
Installation Tragkraft/Horizonte":
In einem Katalogtext über einen Besuch bei Michael Witlatschil
beschreibt Gerd Reising den Vorgang des Aufstellens einer
Skulptur in den Stand: Es ging sehr rasch, bis die Stange
frei war, Michael Witlatschil öffnete abwartend die Hände,
hielt sie schützend um die Stange und entfernte sich
dann selbstbewußt und entspannt ein paar Schritte, zunächst
die Stange abschätzend, dann uns beobachtend."
Neben dem Ausbalancieren des Gewichts der Skulptur, das in
eine annähernd ideale Position zu den Gravitationskräften
tariert werden muß, gehört das Loslassen, also
die Entspannung, die auf das in Spannung bringen"
erfolgt. Im
Vorgang des konzentrierten Ansetzens der Skulptur, dem Einlassen
auf ihre Bedingungen und dem endgültigen Loslassen findet
ein Kontakt und seine Auflösung statt, der in den Zen-Künsten
bewußt eingeübt wird und überliefert ist.
Eugen Herriegel beschreibt in seinem Buch Zen in der
Kunst des Bogenschießens" die Mühen und Anforderungen,
die zur Absichtslosigkeit führen, derer es bedarf, um
einen geglückten Bogenschuß abzugeben. Dabei spielt
das richtige Loslassen von Pfeil, Sehne und Selbst eine zentrale
Rolle. Im Gespräch über die Schwierigkeiten des
richtigen Loslassens bemerkt der Bogenlehrer Kenzo Awa gegenüber
Herriegel:
Der rechte Schuß im rechten Augenblick bleibt
aus, weil Sie nicht von sich selbst loskommen. Solange dem
so ist, bleibt Ihnen keine andere Wahl, als ein von Ihnen
unabhängiges Geschehen selbst hervorzurufen, und solange
Sie es hervorrufen, öffnet sich Ihre Hand nicht in der
rechten Weise wie die Hand eines Kindes; sie platzt
nicht auf, wie die Schale einer reifen Frucht. Sie müssen
das richtige Warten erlernen." Und wie erlernt
man das?" Indem Sie loskommen von sich selbst und
all das Ihre hinter sich lassen, daß von Ihnen nichts
mehr übrig bleibt als das absichtslose Gespanntsein."2
Wenn Herriegel oder Meister Kenzo Awa vom Selbst"
sprechen, ist wohl vor allem die Ich-Funktion des Subjekts
gemeint, das es zu überwinden gilt. In Hinsicht auf das
Aufstellen der Skulpturen Michael Witlatschils bedeutet ein
vom selbst unabhängiges Geschehen hervorzurufen"
das
Umstürzen der Skulptur. Nur das richtige Loslassen des
Metalls sozusagen die letzte Kunst beim Aufstellen
garantiert ihren Stand. Zwar ist das fachgerechte Positionieren
der Gegenstände auf den Glasscherben unabdingbar, gelingen
kann das Aufstellen aber nur durch eine Entspannung im höchsten
Moment der Spannung.
In der Bemerkung Kenzo Awas ist eine Parallele zu einer Feststellung
Adornos erkennbar, der in der Konzentration auf den Gegenstand
der Kunst eine Möglichkeit sah, das systemstiftende
Ich-Prinzip" aufzugeben, somit die Idee der Subjektivität
zu überwinden und das Objekt reden zu lassen. Dem Ich-Prinzip"
als zu überwindender Kategorie, könnte der Prozeß
der Selbst- und Welterfahrung gegenübergestellt werden,
doch sind in der Moderne die Klammern, die im klassischen
Denken Reflexion und Leben zusammenhielten, auseinandergebrochen.
In der modernen Wissenschaft ist es dem Ich geradezu verboten,
sich selbst" zu erfahren, will es nicht einer weltflüchtigen
Ignoranz" bezichtigt werden. Das Selbst",
so der Philosoph Peter Sloterdijk, weiß sich auf
geheimnisvolle Weise an eine Welt' angeschlossen, ohne
daß es sich im Sinne der griechischen Kosmologie selbst
erkennen könnte ... Die Subjekte wissen sich weder in
sich' noch in ihren Umwelten als ,bei sich daheim".
Michael Witlatschils gesamtes Werk und seine Installation
Tragkraft/Horizonte" handelt von diesem faszinatären
Verhältnis zwischen Reflexion und Leben, aber auch von
dem Versuch, die Barriere aus Leere und Fremdheit, die zwischen
Selbst" und Welt" steht, durchlässiger
zu machen. Mit seinen Kunstwerken berührt er die Grenze,
die die magische Erlebniswelt und die rationale Erkenntnis
scheidet und verbindet.
Erst im Augenblick des Loslassens erschafft Michael Witlatschil
seine Skulptur endgültig, das heißt, er verhilft
ihr zum freien Stand, einem eigenständigen Dasein, das
von der engen Verbindung zu ihrem Kreator befreit ist. In
der Freiheit des Standes erlangt die Skulptur die Fälligkeit
zur eigenen Aura.
Im Zusammenhang des Installierens seiner Werke spricht Witlatschil
von einer Choreographie, die er durchführt, damit die
Skulptur stehen kann, doch existiert in seiner
Terminologie auch der Begriff der Choreographie des
Sehens", die dem Betrachter zufällt. Den Aufwand
an Empathie, den er dem Kunstwerk gegenüber entwickelt,
verlangt dieses dem Betrachter ab.
Trotz ihrer relativen Standfestigkeit erzeugen Witlatschils
Werke den Eindruck von innerer Dynamik und in ihrer Instabilität
das Gefühl einer eher vorübergehenden oder flüchtigen
Präsenz im Raum. Die Skulpturen scheinen Gegenstände
zu sein, die das menschliche Schicksal der Umsiedlung"
teilen. Mit dem Begriff der Umsiedlung" beschreibt
der sterbende Sokrates seinen Grenzüberschritt aus der
Sphäre der Lebendigen in das Totenreich. Heute müssen
selbst die Lebenden vor Kriegen, Genoziden und ökologischen
Katastrophen flüchten, sie werden aus ihrer Umgebung
ausgesondert, vertrieben und umgesiedelt.
Michael Witlatschils Installation Tragkraft/Horizonte"
handelt von der Erfahrung der Grenzüberschreitung und
dem Verlust eines stabilen Umfeldes. Doch entsteht auch erst
in der Entgrenzung ihre auratische Wirkung, ihre Dynamik und
unmittelbare Anwesenheit.
In seinem Werk 1/7" ist jeder der sieben Stahlstangen
ein kürzeres Kupferstück aufgebürdet. In einem
Gespräch hat der Künstler geäußert, daß
die Kupferteile wie notwendiges Fluchtgepäck betrachtet
werden können oder wie kleine Lasten. In Witlatschils
Sinne ist aber das Notwendigste auch das Wertvollste und wird
somit zur größten Last. Wenn der Künstler
in seiner Installation verschiedene Tragkraftschilder an der
Wand befestigt, die in Aufzügen das Gewicht der zulässigen
Last und die erlaubte Personenzahl ausweisen, und damit den
Faktor Mensch" als variable Größe einsetzt,
reagiert er auf einen in der Gesellschaft zu beobachtenden
Umschwung in der Beurteilung des Wertes Mensch":
In zunehmendem Maße wird Mensch" zur Disposition
gestellt und damit wertlos und sogar absurd. Wie einen Gegenpol
zu dieser Entwicklung läßt sich die Reihe der Messingschilder
mit der Aufschrift dennoch" verstehen. Es ist Michael
Witlatschils Kommentar zur zynischen Vernunft politischer
Irrationalität. Sein dennoch" ist wie eine
Aufforderung zu begreifen, die Kraft der Utopie zu empfinden
und zu empfangen und den Prozeß einer Neuorientierung,
der Formung und des Erreichens neuer Horizonte einzuleiten.