Karin Stempel

Bemerkungen zum Aufstellen der Arbeiten Modell Stand 6 / Stand 17 -Näherung E

Banal - so wirkt zunächst die Ausgangssituation für eine Performance von Michael Witlatschil, die unter dem Titel »Selbständige Systeme eigengesetzlicher Natur« steht. Der Künstler stellt während dieser Performance zwei Skulpturen auf. Das Ausgangsmaterial für diese beiden Skulpturen - in einem Fall ein schweres, mehrere Zentimeter dickes Eisendreieck, das an einer Ecke eingekerbt ist, und ein kurz unter dem einen Ende eingeschnitteuer Vierkantstab, der am anderen Ende in drei Zacken ausläuft, im anderen Fall zwei jeweils an einem Ende stumpfwinklig gebogene Metallstabe, deren Endflächen abgeschrägt sind - liegt auf dem Boden; daneben befinden sich zwei winzige Glasscherben auf Marmorplatten, die die zukünftigen Standflächen für die Skulpturen abgeben.

Der Raum ist leer.

In dem Augenblick, in dem Michael Witlatschil mit dem Aufbau der Skulpturen beginnt, in dem Moment, in dem er den Vierkantstab, in dessen Einschnitt er am oberen Ende das Eisendreieck eingehängt hat, aufrichtet, verändert sich der Raum. Es entsteht ein Zentrum von Energien. Der Raum verwandelt sich in ein Kraftfeld, in dem sich unterschiedlich ausgerichtete Kräfte auszugleichen suchen, die die Betrachter magisch in ihre Bahnen ziehen, sie magnetisierenEs herrscht absolute Stille und Reglosigkeit, so als ob sich alle Energien in einem Punkt, dem noch imaginären Standpunkt der Skulptur konzentrieren. Er bildet den Focus. Die Annäherung an diesen Punkt, das Umkreisen, das Einkreisen, das vermeintliche Finden, das Scheitern, das Erspüren und endlich das Treffen dieses Punktes vollzieht sich als Ringen um einen Zustand, der sich immer wieder zu entziehen scheint; selbst in dem Augenblick, in dem sich der Künstler von der Skulptur löst, dann, wenn die Skulptur steht und er sie selbst mit seinem Blick nicht mehr fixiert, droht sie zu stürzen. Unangreifbar, distanzgebietend markiert die Skulptur bedrohend und bedroht zwischen Stabilität und Labilität eine Grenzsituation.

Dem Gewicht der dreieckigen Eisenplatte, die an der Spitze des Vierkantstabes eingeklinkt ist, wirkt die Neigung des Vierkantstabes entgegen, die das Dreieck in der Schwebe hält, während das Gewicht des Eisendreiecks den Stab, der nur auf drei winzigen Punkten steht, in der Schräge hält. Eine Konstellation zwischen zwei Formen ist erzeugt, die sich beide in labilen Situationen befinden. Wie die Neigung des Stabes den Fall des Dreiecks hemmt, so verhindert das Gewicht des Dreiecks den Sturz des Stabes.

Zwei extreme Positionen, die der Schwerkraft widersprechen, vereinen sich in einem autonomen System, dessen Beziehungsgefüge an die Kleist'sche

Metapher des Torbogens erinnert, bei dem die einzelnen Steine sich gegenseitig im Fall halten.

Während der Phase des Aufbaus und beim Stand der Skulptur durchdringen sich widersprüchliche Empfindungen. Wenn beim Aufbau das Eisendreieck fast stets über dem Kopf des Künstlers schwebt, entsteht eine bedrückende Situation, in der der Künstler selbst existentiell bedroht ist. Er wirkt mit den Bewegungen und dem Gewicht seines Körpers der Schwere, dem Druck entgegen, indem er die Neigung des Stabes instrutnentell als Gegenmittel in einer Strategie benutzt, in der die Gefahr, in der er schwebt, neutralisiert wird. Dennoch weicht der Zustand permanenter Beklemmung nicht völlig, auch dann nicht, wenn eine Figuration gefunden ist, in der sich die Spannung durch die Einstellung gegenläufiger Kräfte löst. Ist dieser Zustand der Indifferenz erreicht, so vermittelt sich auch noch in dieser Gleichgültigkeit gegen die äußeren Umstände, in ihrer Überwindung, die sich in dieser Arbeit vergegenständficht, das Wissen um die Gefährdung und die Gefährdetheit dieses Zustandes.

Im Gegensatz zu dieser Arbeit, in der ein Gleichgewicht zwischen zwei extremen Positionen erzeugt wird, die sich in wechselseitiger Abhängigkeit halten, besteht die zweite Arbeit von Michael Witlatschil aus zwei einzelnen parallelen Metallstäben, die sich trotz des vermeintlichen Augenscheins in keinem einzigen Punkt berühren. Die Stäbe, die im oberen Abschnitt stumpfwinklig gebogen sind, laufen jeweils in einer nur wenige Millimeter breiten Standfläehe aus. Das Aufstellen des ersten Stabes vollzieht sich als Balanceakt, in dem der Künstler durch zaghafte Dreh- und Pendelbewegungen des Stabes einen Ausgleich der Gewichtsverhältnisse herzustellen sucht. Er reagiert in seinen Bewegungen auf das geringfügigste Schwanken des Stabes, fängt es - und sei es nur durch eine Berührung mit seinen Fingerspitzen - ab, bis der Stab steht und der Künstler sich von ihm löst. Die Aufstellung des zweiten Stabes erweist sich als noch problematischer. Es gilt nicht nur den Punkt zu finden, in dem der Stab wider jede Erwartung steht, sondern es geht darum, jenen Grenzwert der Annäherung zu finden, in dem die beiden Stäbe sich an ihren Spitzen zu berühren scheinen. Jedes Schwanken des zweiten Stabes, jede verzögerte Reaktion des Künstlers, jedes Zittern hätte unweigerlich den Fall des ersten Stabes zur Folge. Der Künstler folgt mit äußerster Präzision dem Gesetz der Schwere, dem die Stäbe unterworfen sind, und das er durch Gegenbewegungen einzustellen sucht. Witlatschil folgt mit seinem Körper Kräften, die von außen auf ihn wirken und entwikkelt mit Hilfe seines Körpers einen Automatismus, der diese Kräfte außer Kraft setzt.

Witlatschil gelingt es durch diesen Automatismus das Gesetz der Schwere, dem die Stäbe wie Pendel folgen, einzustellen und es in dem Augenblick zu transportieren, in dem er sich von der Skulptur löst.

Es entsteht eine Skulptur, in der sich die beiden Stäbe wie kommunizierende Röhren über einen Abgrund hinweg gegenseitig bedingen. Die Annäherung der beiden Stäbe, ihre absolute Nähe, erhält sich nur über eine Distanz hinweg~ deren Überbrückung unmöglich ist, soll die Nähe nicht zerstört werden. Wie ein uneingelöstes Versprechen weist diese Skulptur über sich hinaus, während sie selbst wie eine Stele zwischen Tod und Leben steht.

Sind beide Skulpturen aufgestellt, stehen sie in einer räumlichen Beziehung, in der die Konstellation eine neue Konfiguration erzeugt. Die Standpunkte der Skulpturen liegen auf einer imaginären Diagonalen, die den Raum durchkreuzt. Der durch die Stellung der Skulpturen definierte imaginäre Raum, von dessen ellipsoider Peripherie aus der Betrachter die Arbeiten beim Umschreiten wahrnimmt, wird in seinen Abmessungen durch die Höhe der Skulpturen und durch den Fallradius der aufrecht stehenden Stäbe begrenzt. Von einem idealen Punkt aus gesehen, überschneiden sich die aufrechtstehenden Stäbe beider Skulpturen so, daß sie zur Deckung kommen und den Raum, der sie trennt, kontrahieren.

Ein einziger Stab scheint im Raum zu stehen, an dessen Spitze das horizontal ausgerichtete Dreieck schwebt. Die Spannung zwischen beiden Skulpturen ist für einen Augenblick neutralisiert, der Raum auf eine dreifaltige Linie verkürzt, die wie ein Speichenbündel das Gerüst des Raumes bildet, den sie aufspannt und entfaltet, sobald sie auseinandertritt und sich auffächert. Lapidar formuliert sich in dieser Figur die Raumsumme, indem die drei Dimensionen der räumlichen Wahrnehmung in einer hieratischen Gestalt gebunden sind.

Einzig das schwebende Dreieck durchbricht durch seine Situation im Raum das strenge System ausgerichteter Vertikalen und drängt aus dem markierten Beziehungsgefüge hinaus. Außerhalb des durch die Vertikalen definierten Raumsystems scheint es sich diesem auf einer anderen Ebene zu entwinden; von seiner Logik nicht berührt, überschreitet und transzendiert es dessen Gesetze, indem es, schwerelos getrieben von imaginären Kräften, in einen anderen Raum jenseits davon - zu schweben scheint, der neue metaphysische Dimensionen der Wahrnehmung eröffnet.