Sabine Kimpel-Fehlemann

Annunziazione - Konfiguration Mönchengladbach

Zwischen Abweisung und Anziehung, zwischen Schwere und Leichtigkeit, zwischen Helligkeit und Dunkel, mischen Distanz und Beziehung, mischen Offenheit und Verschlossenheit nehmen diese beiden Plastiken ein Zmiegespräch auf. Michael Witlatschil hat für diese Konfiguration in Mönchengladbach ein Thema aus der christlichen lkonographie gewählt: Annunziazione, Verkündigung. Damit gesellt sich zur Wahrnehmung das Bild, wird die geheimnisvolle Aura des Sakralen direkt benannt.

Kein Künstler arbeitet ohne bewußte oder unbewußte Rückgriffe auf die Tradition. Als Witlatschil in Italien lebte, haben ihn die Verkündigungsszenen zum Beispiel eines Fra Filippo Lippi, eines Domenico Ghirlandaio und Leonardo da Vinci beeindruckt. So ergab sich für ihn eine neue Interpretation aus dieser Zusammenstellung. Denn immer noch bestimme, So meint er, die christliche und antike Tradition wesentlich unser Weltbild, bis heute. Mit der Assoziation, mit der Rückkoppelung, der Anbindung, erweitert sich das Gesehene im Bewußtsein zu einer höheren Realität...

Der gefundene Titel für die beiden Arbeiten ist eine Projektion, eine induklive Interpretation, wie wir sie von Sternbildern kennen. Auch dort sind einzelne zerstreute Lichtpunkte zu Konfigurationen zusammengefaßt worden, die der Geist des Menschen erfand, und die ihn beflügelten. So hat von jeher der Mensch seine Hoffnungen, seinen Glauben in alles hineinprojiziert, was sich ihm nur entfernt zu einer Identifikation anbot. Und je weiter wir in die Geschichte und Vorgeschichte zurückgehen, um so wichtiger scheinen diese suggestiven Inhalte zu werden. Auch heute leben unterhalb unserer modernen Geisteshaltung und unseres wissenschaftlichen Weltbildes die alten magischen Vorstellungen in uns fort und können unvermutet ans Tageslicht treten, sei es im Spiel oder im Ernst...

Wenn Michael Witlatschil seine beiden Einzelstücke »Stand 14« und »Stand 5« zu einer Annuziazione zusammenfaßt, so hat das nicht nur ikonographische Auslösefunktion, sondern auch funktionale. Er schafft damit einen räumlichen Zusammenhalt von zwei einzelnen Gebilden. Wie weit man zwei Gestalten voneinander entfernen kann und sie doch als zusammengehörig erfaßt, war auch schon im Mittelalter eine Fragestellung. So haben gerade die plastischen Verkündigungsdarstellungen zum Beispiel im Regensburger Dom die Distanz eines ganzen Mittelschiffes zu überwinden vermocht: An einem Pfeiler steht Maria, an dem gegenüberliegenden der Verkündigungsengel. Oder im Gewände von Portalen wurden einst biblische Szenen über die Türöffnung mit dem Mittelpfeiler verbunden, mm Beispiel am Nordportal von Notre Dame in Paris: Am Mittelpfeiler Madonna, im Gewände die anbetenden Könige. Auch eine Kuppel und ein Turm einer Kirche bilden von den verschiedenen Standpunkten in der Stadt (zum Beispiel St. Niklas auf der Kleinseite in Prag) immer neue spielerisch zusammenfaßbare Ansichten. All das sind Themen, die mit lkonographie wenig, um so mehr aber mit Fragen von Distanz, Begegnung und Zusammengehörigkeit zu tun haben.

In dieser Überlagerung verschiedener Bezugssysterne, zusammen mit einer äußersten Reduktion der Bildmittel entsteht ein sinnbildhafter Aufbau, wird eine faszinierende Prägnanz, Präzision und Intensität ersichtlich, denen Witlatschil formal neue Aspekte hinzufügt.

Sabine Kimpel-Fehlemann

aus

Eine Assoziazionscollage zu zwei Werkstücken von Michael
     Witlatschil, Katalog. Städt. Museum Abteiberg, Mönchengladbach